Tipps und Urteile

Die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) ist keine Voraussetzung für die Versetzung von der Dauernachtschicht in die Wechselschicht. (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.10.2017, Aktenzeichen 10 AZR 47/17)
Anordnungen des Arbeitgebers, die sich im Rahmen des Arbeitsvertrages bewegen, müssen nach „billigem Ermessen“ erfolgen. Das bedeutet, der Arbeitgeber muss nicht nur seine Interessen, sondern auch die Interessen des Arbeitnehmers angemessen berücksichtigen. Das ergibt sich aus § 106 Gewerbeordnung, § 315 BGB.
Der Kläger dieses Verfahrens war seit 2005 fast ausschließlich in der Dauernachtschicht beschäftigt gewesen. Nachdem er in den Jahren 2013 und 2014 an jeweils 35 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt war, nahm er vom 02.12.2014 bis zum 26.02.2015 an einer suchtbedingten Therapiemaßnahme statt.
Danach versetzte die Arbeitgeberin ihn in die Wechselschicht. Sie argumentierte, sie wolle ausprobieren, ob die gesundheitliche Situation des Klägers bei Tätigkeit in der Wechselschicht sich verbessern werde. Außerdem sei es in der Wechselschicht leichter, bei einem Ausfall eines Arbeitnehmers eine Vertretung zu organisieren.
Der Kläger erhob Klage gegen diese Versetzung. Er argumentierte, dass er sich körperlich auf die Nachtschicht eingestellt habe. Die Tätigkeit in der Wechselschicht sei für ihn gesundheitlich weit belastender. Die Ende 2014 aufgetretenen Fehlzeiten seien durch eine Suchttherapiemaßnahme verursacht. Außerdem würde er durch die Versetzung einen monatlichen Bruttovergütungsanspruch in Höhe von ca. 1000,00 € verlieren.
Die Versetzung sei aber schon deshalb unwirksam, weil die Beklagte vor der Versetzung in die Wechselschicht kein betriebliches Eingliederungsmanagement mit ihm durchgeführt habe.
Das erstinstanzliche Gericht (Arbeitsgericht Pforzheim) entschied zugunsten der Arbeitgeberin, das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg zugunsten des Arbeitnehmers.

Auf die Revision der Arbeitgeberin widersprach das Bundesarbeitsgericht deutlich der Auffassung der 2. Instanz, die Durchführung eines BEM sei Voraussetzung für eine Versetzung.
Ebenso, wie die Durchführung eines BEM keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung sei, sei sie nicht die Voraussetzung für eine Versetzung oder eine anderweitige Ausübung des Direktionsrechts der Arbeitgeberin.

Da das Landesarbeitsgericht keine Feststellungen zu den wechselseitigen Behauptungen der Parteien des Rechtsstreits getroffen hatte, wurde das Verfahren zur Entscheidung zurückverwiesen.

Interessant sind die Hinweise des Bundesarbeitsgerichts zur vorzunehmenden Abwägung zwischen den Interessen der Arbeitnehmerseite und der Arbeitgeberseite:
Wenn der Arbeitgeber Interessen des Arbeitnehmers nicht berücksichtigt habe, weil er sie mangels Durchführung eines BEM gar nicht gekannt habe, werde die Ausübung des Direktionsrechts sich regelmäßig als unwirksam erweisen, sofern nicht trotzdem die vom Arbeitgeber angeführten Abwägungsgesichtspunkte die Wahrung billigen Ermessens begründen können.
Das Landesarbeitsgericht werde zu berücksichtigen haben, dass es gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnis sei, dass grundsätzlich Nachtarbeit für jeden Menschen nachteilige gesundheitliche Auswirkungen habe.
Der allgemein gehaltene Vortrag des Klägers, er habe sich körperlich auf die Nachtarbeit eingestellt, werde so nicht ausreichen. Es werde auch zu berücksichtigen sein, dass die Arbeitgeberin eine Dauernachtschicht eingerichtet habe. Daher müsse gesondert geprüft werden, warum gerade in der Person des Klägers hinreichende Umstände vorliegen würden, um die allgemeine Erkenntnis der Schädlichkeit der Dauernachtschicht als hinreichenden Grund für die Umsetzung anzusehen.
Weiter sei vom Landesarbeitsgericht dem bisherigen Vortrag der Beklagten, der Kläger sei in der Wechselschicht leichter zu ersetzen, nachzugehen und dieser zu bewerten. Ebenfalls sei dem bis dahin wenig substantiierten Vortrag des Klägers zu seinen finanziellen Einbußen durch den Wegfall von Zuschlägen und Zulagen nachzugehen.
Zu dem Aspekt der finanziellen Einbußen sei zu berücksichtigen, dass diese die besonderen Erschwernisse von Nachtarbeit ausgleichen sollten. Diese Erschwernisse würden aber bei Nichteinsatz in der Nachtschicht entfallen.

Bewertung / Tipp:
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts entspricht der Gesetzeslage.
Der eigentliche Grund von Klagen gegen die Umsetzung aus einer Dauernachtschicht in die Wechselschicht dürfte häufig der damit verbundene Einkommensverlust sein.
Wenn auch das Bundesarbeitsgericht in der Sache selbst nicht entschieden hat, so kann man schon seinen Vorgaben für die Beurteilung des Ermessens nach §§ 106 GewO, 315 BGB entnehmen, dass der Einkommensverlust zwar ein Argument ist, aber nicht das entscheidende Argument. Denn nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts fällt gleichzeitig mit dem Verlust von Zulagen und Zuschlägen auch der Grund weg, warum diese gezahlt werden, nämlich für das Arbeiten unter erschwerten und gesundheitsschädlichen Umständen.

Interessant in Betrieben mit Betriebsrat:
Sollte die Arbeitgeberin gar kein BEM durchführen, so haben Sie in einem Betrieb mit Betriebsrat gemäß §§ 84, 85 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) die Möglichkeit, sich bei den zuständigen Stellen des Betriebs und auch beim Betriebsrat zu beschweren. Da, wie das Bundesarbeitsgericht mitUrteil vom 07.09.2021, Aktenzeichen 9 AZR 571/20 festgestellt hat, kein Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements besteht, kann der Betriebsrat gemäß § 85 Abs. 2 BetrVG die Einigungsstelle anrufen.

Eine Versetzung von der Dauernachtschicht in die Wechselschicht stellt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts und auch des Arbeitsgerichts Bremen keine Versetzung im Sinne des § 95 Abs. 3 BetrVG dar, sodass in einem solchen Fall kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 99 BetrVG besteht.


Weitere interessante Artikel und Urteile zum bEM:

Zur oben erwähnten Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers interessant:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/tipps-und-urteile-zum-arbeitsrecht-2021/kuendigung-wegen-krankheit

Recht auf Zuziehung einer Vertrauensperson zum bEM:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/tipps-und-urteile-zum-arbeitsrecht-2021/aenderung-betriebliches-eingliederungsmanagement

Pflicht zur ordnungsgemäßen Einladung zum bEM und zur Hinzuziehung von Rehabilitationsträgern:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/2019/einladung-zu-betrieblichem-eingliederungsmanagement

Mögliche Folgen einer nicht ordnungsgemäßen Einladung zumbEM:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/tipps-und-urteile-zum-arbeitsrecht-2022/wann-ist-eine-krankheitsbedingte-kuendigung-unwirksam

(eingestellt am 15.04.2023)