Tipps und Urteile

Der Pflicht des Arbeitgebers, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchzuführen, steht kein individueller Anspruch des Arbeitnehmers auf Durchführung des Eingliederungsmanagements gegenüber. (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.09.2021, Aktenzeichen 9 AZR 571/20)
Der Kläger dieses Verfahrens ist bei der beklagten Arbeitgeberin, einer Gemeinde, seit dem 03.07.2000 beschäftigt. Er ist behindert mit einem Grad der Behinderung von 30 und einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Die Beklagte versetzte den Kläger ab dem 01.01.2016 in den Bereich „C“. Der Kläger war im Jahre 2018 an 122 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt, zwischen dem 01.01.2019 und dem 25.08.2019 an 86 Arbeitstagen. Er verlangte mit Schreiben seines Rechtsanwalts vom 02.08.2019 die Durchführung eines bEM. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 19.08. 2019 ab. Daraufhin verklagte der Kläger die Gemeinde mit dem Antrag, mit ihm ein bEM gemäß § 167 SGB IX durchzuführen.

Er hatte Erfolg vor dem Arbeitsgericht, vor dem Landesarbeitsgericht und dem Bundesarbeitsgericht jedoch nicht.
Das Bundesarbeitsgericht kommt nach Auslegung von § 167 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nach seinem Wortlaut, dem Sinnzusammenhang der Norm und ihrer Entstehungsgeschichte zu dem Ergebnis, dass aus ihr kein Individualanspruch des Arbeitnehmers herzuleiten sei.
Es sieht auch keine Möglichkeit, einen Anspruch aus dem Gebot der Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 und der Pflicht zu Schutzmaßnahmen gemäß § 618 BGB herzuleiten. Dies sei nicht möglich, weil die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung überschritten wären, wenn aus diesen Vorschriften eine Rechtsfolge abgeleitet würde, die der Gesetzgeber in § 167 Abs. 2 SGB IX ausdrücklich ausgeschlossen habe.
Das Bundesarbeitsgericht weist darauf hin, dass aus den §§ 241 Abs. 2, 618 BGB sehr wohl Ansprüche auf Einzelmaßnahmen des Arbeitgebers zum Gesundheitsschutz, zum Beispiel leidensgerechte Beschäftigung und Berücksichtigung gesundheitlicher Einschränkungen im Rahmen des Weisungsrechts, nicht aber ein Anspruch auf Durchführung eines bEM abzuleiten sei.

Auch aus den einschlägigen EU-Richtlinien lasse sich ein solcher Anspruch nicht herleiten. Die nationale Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland habe Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG und Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i UN-Behindertenrechtskonvention äquivalent und hinreichend umgesetzt. Für diese Ansicht beruft das Bundesarbeitsgericht sich auf seine Rechtsprechung, wonach ein Arbeitgeber, der seiner Initiativlast zur Durchführung eines bEM nicht nachkomme, (kurz gefasst, R.-C. B.) im Fall einer Kündigungsschutzklage oder einer Klage auf Beschäftigung eines betroffenen Arbeitnehmers umfassend und konkret darlegen und beweisen muss, warum ein bEM von vornherein zwecklos gewesen wäre.

Bewertung:
Es ist leider immer noch so, dass Arbeitgeber ihrer Verpflichtung, ein bEM durchzuführen, nicht nachkommen. Wenn es kein individuell einklagbares Recht der Arbeitnehmerseite auf Durchführung des bEM gibt, so ist die Forderung an den Gesetzgeber zu stellen, ein solches einzuführen (so auch Euler in jurisPR ArbR 10/2022 Anm. 1).

Weitere interessante Artikel und Urteile zum bEM:

Zur oben erwähnten Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers interessant:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/tipps-und-urteile-zum-arbeitsrecht-2021/kuendigung-wegen-krankheit

Recht auf Zuziehung einer Vertrauensperson zum bEM:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/tipps-und-urteile-zum-arbeitsrecht-2021/aenderung-betriebliches-eingliederungsmanagement

Pflicht zur ordnungsgemäßen Einladung zum bEM und zur Hinzuziehung von Rehabilitationsträgern:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/2019/einladung-zu-betrieblichem-eingliederungsmanagement

Mögliche Folgen einer nicht ordnungsgemäßen Einladung zumbEM:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/tipps-und-urteile-zum-arbeitsrecht-2022/wann-ist-eine-krankheitsbedingte-kuendigung-unwirksam