Tipps und Urteile 2020

Betriebliches Eingliederungsmanagement: Hat der Arbeitnehmer das Recht, vom Arbeitgeber die Teilnahme einer bestimmten Mitarbeiterin des Integrationsamtes zu verlangen? Kann der Arbeitnehmer die Teilnahme seines Rechtsanwalts an den BEM-Gesprächen verlangen? (Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 23.01.2020, Aktenzeichen 7 Sa 471/19)
Die Klägerin, die zum Kreis der schwerbehinderten Menschen gehört, machte neben anderen Ansprüchen gegen die Arbeitgeberin, eine Sparkasse, auch geltend, eine bestimmte Mitarbeiterin des Integrationsamtes sowie ihren Rechtsanwalt an dem betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) teilnehmen zu lassen.

Mit diesen Anträgen hatte sie erstinstanzlich keinen Erfolg. Auch das Landesarbeitsgericht Köln hat die Anträge abgewiesen. Es hat festgestellt, dass der Arbeitgeber nicht verpflichtet werden könne, einen bestimmten Mitarbeiter des Integrationsamtes am BEM teilnehmen zu lassen. Auch bestehe kein Anspruch der Klägerin darauf, dass ein Rechtsanwalt an den für das BEM durchzuführenden Gesprächen teilnehmen dürfe.

§ 167 Abs. 2 Satz 4 SGB IX bestimmt, dass der Arbeitgeber bei schwerbehinderten Arbeitnehmern das Integrationsamt hinzuzieht, wenn Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen am Arbeitsleben in Betracht kommen. Beim Integrationsamt handele es sich um eine staatliche Behörde, die im Verhältnis zu den Parteien des Arbeitsvertrages als eine selbstständige Dritte anzusehen sei. Welche Personen die Behörde ihre Aufgabe im BEM wahrnehmen ließe, entscheide die Behörde selbstständig. Das Landesarbeitsgericht bemüht als analog-Beispielsfall, dass die Klägerin auch in Steuerangelegenheiten keinen Anspruch darauf habe, dass ein bestimmter Mitarbeiter ihres Finanzamtes ihre Steuererklärung bearbeite. Da die Arbeitgeberin ebenso keinen Einfluss darauf habe, welcher Mitarbeiter des Integrationsamtes im BEM tätig wird, könne die Klägerin erst recht keinen Anspruch gegen die Arbeitgeberin auf Teilnahme eines bestimmten Mitarbeiters des Integrationsamtes geltend machen.

Das Gesetz bestimme in § 167 Abs. 2 SGB IX genau, wer an den für das BEM notwendigen Gesprächen teilnehmen solle. Rechtsanwälte würden dort nicht erwähnt.
Die Hinzuziehung externer Anwälte erscheine sogar eher kontraproduktiv, weil in den Gesprächen auch nicht für die Öffentlichkeit bzw. externe Dritte bestimmte betriebliche Interna o. ä. zur Sprache kommen könnten.
Es sei nicht der Fall, dass es sich bei dem betrieblichen Eingliederungsmanagement lediglich um eine Vorstufe zum Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung handele. Im Gegenteil, eine solche solle verhindert werden.
Für den Fall, dass im Laufe des BEM Rechtsfragen relevant werden würden, könne der Betroffene jederzeit eine Unterbrechung des Gesprächs beantragen, um sich von einem Rechtsanwalt beraten zu lassen. Die Teilnahme von externen Rechtsvertretern führe hingegen zu einer „Verrechtlichung“ der Gespräche, die die notwendige Vertraulichkeit beeinträchtige.
Ein externer Rechtsvertreter könne auch in der Regel wenig bis gar nichts zum Gelingen der Gespräche in der Sache beitragen. Er besitze nicht die notwendigen medizinischen Sachkenntnisse, die erforderlich seien, um zu beurteilen, wie am Arbeitsplatz am zweckmäßigsten auf gesundheitliche Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers reagiert werden könne. Auch sei er nicht vertraut mit der Betriebsorganisation und könne daher auch nicht dazu beitragen, Änderungen vorzuschlagen. Die Interessen des Arbeitnehmers seien dadurch hinreichend gewahrt, dass zwingend die betriebliche Interessenvertretung, also Personalrat / Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung an den Gesprächen teilnehmen müsse.

Bewertung:
Das Landesarbeitsgericht Köln hat anscheinend keine hohe Meinung von Rechtsanwälten. Ich habe bei persönlicher Teilnahme an BEM-Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass meine Teilnahme – die von den Arbeitgebern gestattet worden war – den betroffenen Arbeitnehmern im Sinne des Gelingens des BEM geholfen hat. Ein BEM-Gespräch ist für Arbeitnehmer eine extrem belastende Situation. Es hat meinen Mandanten geholfen, wenn ichzur Vorbereitung der BEM-Gespräche mit ihnen ihre gesundheitlichen Belastungen, die sie mir geschildert haben, besprochen habe, und ihnen geholfen habe, von ihnen für sinnvoll erachtete Vorschläge zur Änderung der Arbeitsabläufe zu entwickeln. Zur Aufnahme der gesundheitlichen Belastungen sind medizinische Kenntnisse natürlich sehr nützlich. Aber in der Regel helfen mir die Schilderungen der Mandanten und von ihnen gegebenenfalls beigebrachte Unterlagen, eine Grundvorstellung zu bekommen. Die für sie einschlägige Betriebsorganisation können die Mandanten ebenfalls schildern (wobei zugegebenermaßen Ihnen der Blick aufs große Ganze – je nach Hierarchiestufe, in der sie sich befinden – fehlen kann).

Ich unterstütze die Mandanten dabei, ihren Standpunkt vorzubringen und die Argumente der anderen Verfahrensbeteiligten aufzunehmen. Das dazu notwendige Vertrauensverhältnis lässt sich von Seiten der Mandanten manchmal leichter mit einem Rechtsanwalt als mit Personalräten/ Betriebsräten und Schwerbehindertenvertreterinnen aufbauen. Ich glaube nicht, dass das kontraproduktiv ist.

Soweit meine praktischen Erfahrungen. Juristisch ist der generalisierenden Argumentation des Landesarbeitsgerichts zu entgegnen, dass es auch Betriebe ohne Betriebsrat und Betriebe ohne Schwerbehindertenvertretung gibt. Hier wäre die vom Landesarbeitsgericht unterstellte ausreichende Wahrung der Belange des Arbeitnehmers nicht gewährleistet.
Auch hat das Landesarbeitsgericht Köln nicht berücksichtigt, dass das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung vom 22.03.2016 davon auszugehen scheint, dass das BEM einen Klärungsprozess voraussetze, der getrennte Erörterungen des Arbeitgebers mit dem Betroffenen unter Ausschluss des Betriebsrats ermögliche. Wenn man davon ausgeht, dass der Arbeitgeber auch den Betriebsrat, der ja in § 167 Abs. 2 ausdrücklich erwähnt ist, von den Beratungen ausschließen kann, verliert das Argument des Landesarbeitsgerichts Köln, der Betroffene benötige keinen Rechtsbeistand, erheblich an Gewicht (so Heinz Schäfer, jurisPR-ARbR 34/2020, Anmerkung 3).

Tipp:
Das Landesarbeitsgericht Köln hat aber auch darauf hingewiesen, dass dann, wenn die Arbeitgeberseite darauf besteht, einen Rechtsanwalt oder Verbandsvertreter hinzuzuziehen, nach dem Gebot der Waffengleichheit auch ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts oder Verbandsvertreters besteht. Den Gesichtspunkt der Waffengleichheit hat auch das Landesarbeitsgericht Hamm (Urteil vom 13.11.2014, Aktenzeichen 15 Sa 979/14) so gesehen. (S.a. "Urteil-BEM-Verfahren")
Ebenso könne das Recht des Arbeitnehmers auf Beteiligung eines Rechtsanwalts, so das Landesarbeitsgericht Köln, diskutiert werden, wenn der Betroffene aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage sei, sich in ein BEM Gespräch sinnvoll einzubringen.

Unabhängig von dieser Rechtsprechung können Sie Ihren Arbeitgeber bitten, Ihren Rechtsanwalt zu dem BEM-Gespräch zu laden. Verständige und kooperationsbereite Arbeitgeber machen das durchaus.

Und falls Ihr Anwalt nicht teilnehmen kann: Sollte es während eines BEM-Gesprächs aus Ihrer Sicht zu Rechtsfragen kommen, die Sie gern mit einem Rechtsanwalt besprechen würden, sollten Sie sich nicht scheuen, um eine Unterbrechung des BEM-Gesprächs zu bitten und sich von Ihrem Rechtsanwalt beraten zu lassen. Das Landesarbeitsgericht Köln hat diesen Weg ausdrücklich vorgegeben.
(eingestellt am 18.09.2020)

Ergänzung am 08.08.2021:
Seit dem 10.06.2021 gilt: Arbeitnehmer:innen haben bei der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) das Recht, eine Person ihres Vertrauens nach eigener Wahl hinzuzuziehen.
​​​​​​​Mehr