Tipps und Urteile 2015

Ein Arbeitnehmer hat keinen Anspruch auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zum BEM-Verfahren. Wenn die Arbeitgeberin aber selbst einen Rechtsvertreter zu den BEM-Gesprächen hinzuzieht, muss die Arbeitgeberin einem entsprechenden Verlangen des Arbeitnehmers Rechnung tragen. 
Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 13.11.2014, Az. 15 Sa 979/14  

Problem:
Wenn Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkranken, muss der Arbeitgeber gemäß § 84 Abs. 2 S. 1 SGB IX (seit dem 01.01.2018: § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX, R.-C. B.) klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann. Es muss geklärt werden, mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Dabei muss der Arbeitgeber zusammenarbeiten mit

  • ·         der zuständigen Interessenvertretung (also z.B. Betriebsrat oder Personalrat),
  • ·         der Schwerbehindertenvertretung (wenn eine schwerbehinderte Person betroffen ist)
  • ·         und der betroffenen Person

Wenn erforderlich, muss
 

  • ·         der Betriebsarzt hinzugezogen werden.

Wenn Leistungen zur Teilhabe oder zu begleitenden Hilfe im Arbeitsleben in Betracht kommen, die
 

  • ·         örtlichen gemeinsamen Servicestellen.
  • ·         Bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt.

Soweit das Gesetz.
Viele betroffene Personen wünschen sich für das BEM-Verfahren die Teilnahme eines Rechtsanwalts an ihrer Seite.  

Auffassung des LAG Hamm:
Das Landesarbeitsgericht Hamm begründet seine ablehnende Auffassung damit, dass die Teilnahme eines Rechtsanwalts gesetzlich nicht geregelt sei.
Andererseits, so das Landesarbeitsgericht, sei zu berücksichtigen, dass vom Gesetz den Beteiligten jeder denkbare Spielraum bei der Ausgestaltung des Verfahrens des Betrieblichen Eingliederungsmanagement gewährt wird. Deshalb könnten die Beteiligten es freiwillig dem betroffenen Arbeitnehmer gestatten, einen Rechtsanwalt zum betrieblichen Eingliederungsmanagement hinzuzuziehen. Ein durchsetzbarer Rechtsanspruch des Arbeitnehmers bestehe aber nicht.
Anders ist es, wenn die Arbeitgeberin selbst einen Rechtsvertreter zu BEM-Gesprächen hinzuzieht. Dann ergibt sich ein Anspruch aus dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit.  

Das Landesarbeitsgericht sieht BEM-Gespräche grundsätzlich anders als Personalgespräche, in denen es um grundlegende Fragen des Arbeitsverhältnisses geht oder Anhörungen des Arbeitnehmers im Rahmen einer Verdachtskündigung. Für solche Gespräche geht die Tendenz der Rechtsprechung immer mehr dahin, dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Zuziehung eines Rechtsanwalts zuzusprechen.  

Meine Kritik dazu:
Kritisch ist zur Auffassung des LAG Hamm anzumerken, dass BEM-Gespräche letztlich auch zu grundlegenden Fragen des Arbeitsverhältnisses führen können. Auch zur  möglichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses: So ist beispielsweise denkbar, dass ein Arbeitnehmer an dem Arbeitsplatz, an dem er zur Zeit tätig ist, aufgrund seiner Erkrankung zukünftig nicht mehr tätig sein kann. Dann wird über Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz zu diskutieren sein. Das kann je nach Arbeitsplatz auch bedeuten, dass ein Arbeitnehmer eine schlechtere Bezahlung in Kauf nehmen muss. Und falls kein leidensgerechter Arbeitsplatz gefunden werden kann, kann auch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses im Raum stehen. Spätestens, wenn solche Themen auf dem Tisch liegen, bestünde nach dem Grundsatz der Waffengleichheit ein Anspruch einer betroffenen Person auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts.
Wenn eine betroffene Person erst in diesem Stadium die Teilnahme eines Rechtsanwalts verlangen würde, könnte eine neue Plattform bestiegen werden. Es besteht dann die Gefahr, dass die Beteiligten innerlich eine eher abwehrende und kämpferische Haltung einnehmen. Das wiederum könnte die Kooperationswilligkeit und Kompromissbereitschaft der Beteiligten infrage stellen. Ein solcher psychologischer Einschnitt wäre eher zu vermeiden, wenn dem Rechtsanwalt die Teilnahme von vorneherein gestattet würde.  

Tipp an betroffene Arbeitnehmer und ihre Betriebsräte:
Andere Gerichte können durchaus eine andere Rechtsauffassung vertreten als das LAG Hamm. Man sollte dessen Urteil daher nicht als unumstösslich, sondern als eine mögliche Meinung verinnerlichen. Erkundigen Sie sich, falls die Information der Arbeitgeberin zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement noch Fragen offen lässt, genau, welche Personen an einem BEM-Gespräch teilnehmen sollen. Wenn ein Rechtsanwalt des Arbeitgebers, ein Verbandsjurist oder ein Personaljurist teilnehmen, können Sie ebenfalls die Teilnahme eines Rechtsanwalts verlangen. Das gilt auch, wenn im Verlauf des BEM-Verfahrens grundlegende Änderungen des Arbeitsverhältnisses oder gar die Kündigung diskutiert werden. In einer Betriebsvereinbarung könnte auch das Teilnahmerecht eines Rechtsanwalts der betroffenen Person geregelt werden.
Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 13.11.2014, Az. 15 Sa 979/14  

Ergänzung am 08.08.2021:
Seit dem 10.06.2021 gilt: Arbeitnehmer:innen haben bei der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) das Recht, eine Person ihres Vertrauens nach eigener Wahl hinzuzuziehen.
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