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Stufenweise Wiedereingliederung bei Schwerbehinderung: Rechtsanspruch gestärkt
Die stufenweise Wiedereingliederung eines schwerbehinderten Menschen kann mit einer einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden. (Arbeitsgericht Aachen, Urteil vom 12.03.2024, Aktenzeichen 2 Ga 6/24)
Der Kläger in diesem Verfahren war bei der beklagten Arbeitgeberin seit 1988 in Vollzeit beschäftigt. Seit April 2023 war er an einem Hirntumor erkrankt. Aus diesem Grund wurde ihm ein Grad der Behinderung von 90 zuerkannt.
Die Hausärztin stellte zweimal, nämlich ab dem 07.02.2024 und ab dem 15.03.2024 einen Wiedereingliederungsplan aus. Die Arbeitgeberin lehnte die Mitarbeit an beiden Wiedereingliederungsplänen ab. Daraufhin beantragte der Arbeitnehmer eine Einstweilige Verfügung.
Der letzte Wiedereingliederungsplan sah eine Tätigkeit von etwa einem Monat mit 2 Stunden pro Arbeitstag, etwa einem Monat mit 4 Stunden pro Arbeitstag und etwa einem Monat mit 6 Stunden pro Arbeitstag vor. Der Kläger ging davon aus, dass er ab dem 08.06.2024 wieder voll arbeitsfähig sein würde. Bis zum 10.04.2024 (Ende der 2-Stunden-Phase) würde er noch fahruntüchtig sein.
Die Arbeitgeberin wendete ein, dass es bei ihr keine Aufgaben gäbe, die der Kläger in 2 oder 4 Stunden täglicher Arbeitszeit erledigen könnte. Und die Tätigkeit sei ohne Fahrtätigkeit nicht auszuüben. Der Kläger sei wirtschaftlich nicht zu beschäftigen.

Das überzeugte das Arbeitsgericht nicht. Zu den arbeitsvertraglich geschuldeten Aufgaben des Klägers hatte neben der überwachenden und koordinierenden Tätigkeit auf Baustellen auch die Rechnungsstellung und die Bearbeitung von Reklamationen gehört. Für das Arbeitsgericht war nicht erkennbar, warum er Rechnungsstellung und die Bearbeitung von Reklamationen nach einer Berufserfahrung bei der Beklagten von mehr als 30 Jahren nicht auch innerhalb von 2 Arbeitsstunden arbeitstäglich würde ausüben können. Die Arbeitgeberin hatte dazu nichts vorgetragen.
Das Arbeitsgericht hat eine Interessenabwägung zwischen den Nachteilen, die dem Arbeitnehmer entstehen, wenn die einstweilige Verfügung nicht erlassen wird und den Nachteilen, die die Arbeitgeberseite hat, wenn die einstweilige Verfügung erlassen wird, abgewogen. Im Rahmen dieser Abwägung hat das Arbeitsgericht darauf hingewiesen, dass der Arbeitnehmer typischerweise darauf angewiesen sei, dass eine Wiedereingliederung in dem Zeitfenster am Ende eines Genesungsprozesses erfolge. Die Prognose, ob die volle Einsatzfähigkeit am Ende der Wiedereingliederung bestehe, können nur durch die stufenweise Wiedereingliederung zu diesem Zeitpunkt erfolgen.
Auf Arbeitgeberseite hat das Gericht keinerlei mögliche Schäden erkennen können. Es hat darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit während der Wiedereingliederung nicht darauf gerichtet sei, die wechselseitigen Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zu erfüllen. Es gehe darum, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsfähigkeit wiedererlange. Insoweit genüge der pauschale Vortrag, die Beschäftigung des Arbeitnehmers sei nicht wirtschaftlich, den Anforderungen an die Darlegung eines Nachteils für die Arbeitgeberseite nicht. 

Bewertung / Tipp:
Dazu muss man wissen, dass die Wiedereingliederungsphase vollständig durch das Krankengeld finanziert wird, welches die Krankenkasse dem Arbeitnehmer zahlt. Die Arbeitgeberin muss also während der Wiedereingliederung keine Vergütungszahlungen erbringen. Der Einwand der Arbeitgeberin, der Einsatz des Arbeitnehmers sei „nicht wirtschaftlich“, ist daher nicht nachvollziehbar.
Diese Entscheidung stärkt den Rechtsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer auf betriebliche Wiedereingliederung. Sie knüpft an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts an.
Schwerbehinderte Menschen haben also einen Anspruch auf Wiedereingliederung. Der Anspruch ergibt sich aus § 164 Abs. 4 SGB IX. https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/2019/wiedereingliederungsplan
(eingestellt am 01.05.2024)