Tipps und Urteile

Ein Betriebsrat kann keine individualrechtlichen Ansprüche von Arbeitnehmern isoliert gegen den Arbeitgeber durchsetzen. Er kann nur eigene Ansprüche aus dem Betriebsverfassungsgesetz verfolgen. Macht er aber ein eigenes Recht auf Durchführung einer Betriebsvereinbarung geltend, so kommt es nicht darauf an, ob durch die Betriebsvereinbarung auch individuelle Rechte von Arbeitnehmern begründet werden. Das ist nur die Folge des Anspruchs des Betriebsrats auf ordnungsgemäße Durchführung der Betriebsvereinbarung. (Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 23.03.2015, Aktenzeichen 9 TaBV 86/14)
Immer wieder haben sowohl die Betriebsräte als auch die von ihnen vertretenen Arbeitnehmer den Wunsch, der Betriebsrat möge in Vertretung der Arbeitnehmer Ansprüche, die sich aus Tarifvertrag, Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung ergeben, für sie geltend machen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Betriebsrat nicht in Prozessstandschaft für die Arbeitnehmer deren Ansprüche verfolgen. Das Gesetz sieht für Streitigkeiten zwischen Betriebsräten und Geschäftsführung des Unternehmens ein besonderes Verfahren, nämlich das sogenannte Beschlussverfahren vor. Der Betriebsrat kann in solchen Verfahren nur Ansprüche aus dem Betriebsverfassungsgesetz verfolgen (§ 80 in Verbindung mit § 2a Arbeitsgerichtsgesetz).

Im vorliegenden Fall ging es um den Betriebsrat eines Versicherungsunternehmens. Eine dort bestehende Betriebsvereinbarung sah die Gutschrift besonders definierter Arbeitsausfälle auf dem Gleitzeitkonto der Arbeitnehmer vor. Darunter wurde „Naturkatastrophen“ genannt. Im Einzugsgebiet des Betriebs kam es zu einem Unwetter mit orkanartigen Böen. Infolgedessen stürzten entwurzelte Bäume auf Straßen. Am Folgetag gab es erhebliche Störungen des Straßenverkehrs und des öffentlichen Nahverkehrs. Infolgedessen hatten diverse Mitarbeiter Zeitausfälle, für die sie auch eine Zeitgutschrift auf ihren Gleitzeitkonten verlangten.
Der Betriebsrat forderte die Arbeitgeberin in einem Schreiben auf, entsprechend der Betriebsvereinbarung den betroffenen Mitarbeitern eine Zeitgutschrift zu erteilen.
Die Arbeitgeberin erteilte keine Zeitgutschrift. Sie argumentierte, es handele sich bei dem Sturm nicht um eine Naturkatastrophe im Sinne der Betriebsvereinbarung.

Der Betriebsrat leitete ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht ein und beantragte sinngemäß, die Arbeitgeberin zu verpflichten, den betroffenen Mitarbeitern die Arbeitsausfälle auf ihren Gleitzeitkonten zu erteilen. Er vertrat die Ansicht, bei dem Sturm habe es sich um eine Naturkatastrophe im Sinne der Betriebsvereinbarung gehandelt.
Die Arbeitgeberin wandte ein, der Betriebsrat habe ausschließlich individualrechtliche Ansprüche der Arbeitnehmer vertreten. Er könne nicht in eigenem Namen Zeitgutschriften für die Arbeitnehmer geltend machen.
Das Arbeitsgericht Düsseldorf wies die Anträge des Betriebsrats zurück. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hob die Entscheidung auf und verurteilte die Arbeitgeberin durch Beschluss entsprechend dem Antrag des Betriebsrats.

Entscheidende Gesichtspunkt war, dass der Betriebsrat ein eigenes Recht geltend gemacht hat, nämlich das Recht aus § 80 Abs. 1 BetrVG auf zutreffende Durchführung der Betriebsvereinbarung. Das Entstehen von individuellen Ansprüchen der Arbeitnehmer sei nur eine Folge des eigenen Rechts des Betriebsrats auf Durchführung der Betriebsvereinbarung.
Der Betriebsrat habe nicht die Durchsetzung eines individuellen Anspruchs der Arbeitnehmer auf Gutschrift einer konkreten Zeit auf deren Arbeitszeitkonto verlangt. Es sei ihm erkennbar nur darum gegangen, der Verletzung seines Mitbestimmungsrecht aus der Betriebsvereinbarung vorzubeugen.

Bewertung:
Der Wunsch der Arbeitnehmer und der Betriebsräte, individuelle Arbeitnehmerrechte stellvertretend für die Arbeitnehmer durch die Betriebsräte vor Gericht geltend zu machen, ist verständlich. Die Alternative ist die individualrechtliche Klage vor dem Arbeitsgericht. Das erfordert immer schon besonderen Mut und besondere finanzielle Mittel. Betriebsräte müssen Repressalien oder gar Kündigungen nicht in dem Maße befürchten wie einzelne Arbeitnehmer und die Kosten von arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren trägt grundsätzlich die Arbeitgeberseite.

Nach deutschem Arbeitsrecht ist eine prozessstandschaftliche Lösung nicht vorgesehen. (Ob das so sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt.) Man sieht an dieser Entscheidung aber, dass der Betriebsrat in dem Fall, dass der Arbeitgeber eine Betriebsvereinbarung nicht korrekt durchführt, schon einiges erreichen kann.
Sollte die Arbeitgeberseite trotz eines erfolgten Beschlusses des Arbeitsgerichts trotzdem die Betriebsvereinbarung nicht erfüllen (und wie im vorliegenden Beispielsfall keine Zeitgutschriften durchführen), müssten betroffene Arbeitnehmer trotzdem diese Ansprüche mit einer individuellen Klage geltend machen.

Der Betriebsrat müsste, sollte die Arbeitgeberseite trotz eines rechtskräftigen arbeitsgerichtlichen Beschlusses eine Betriebsvereinbarung nicht durchführen, nicht tatenlos zusehen. Ein solches Verhalten würde einen groben Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Verpflichtungen aus dem BetrVG darstellen. Der Betriebsrat könnte beantragen, den Arbeitgeber durch Androhung eines Zwangsgeldes bis zu 10.000 € zur Einhaltung des arbeitsgerichtlichen Beschlusses anzuhalten (§ 23 Abs. 3 BetrVG).

Ein anderer zur selben Thematik von mir hier

https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/tipps-und-urteile/2023/ansprueche-einzelner-arbeitnehmer-aus-einer-betriebsvereinbarung-im-beschlussverfahren-vor-dem-arbeitsgericht

geschilderter Fall macht im Vergleich zum vorliegenden Fall den Unterschied zwischen der Verfolgung individualrechtliche Ansprüche durch den Betriebsrat und der Verfolgung eigener Rechte des Betriebsrats deutlich.
(eingestellt am 01.05.2023)