Tipps und Urteile

In einem Seniorenheim ist der Arbeitgeber berechtigt, nichtgeimpfte Mitarbeiter von der Arbeit freizustellen (Arbeitsgericht Gießen, Urteil vom 12.04.2022 (5 Ga 1/22) und Landesarbeitsgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 11.08.2022 (Aktenzeichen 5 SaGa 728/22)
Der Arbeitnehmer (Kläger), allein erziehender Vater zweier Töchter im Alter von 1 und 2 Jahren, war bei der Arbeitgeberin (Beklagte) seit dem 01.11.2022 tätig. Die Arbeitgeberin war Betreiberin eines Seniorenheims. Der Kläger arbeitete dort als Wohnbereichsleiter. Der Kläger war nicht geimpft. Er legte der Beklagten keinen Impf- oder Genesenenausweis vor. Auch eine medizinische Kontraindikation, die gegen eine Impfung spricht, legte er nicht vor. Die Beklagte stellte ihn ab dem 16.03.2022 bis längstens zum 31.12.2022 von der Arbeitsleistung frei.
Der Arbeitnehmer beantragte den Erlass einer Einstweiligen Verfügung, die die Arbeitgeberin verpflichten sollte, ihn weiter zu beschäftigen. Das Arbeitsgericht Gießen wies diesen Antrag ab. Es führte aus, dass immer eine Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Arbeitnehmers an Beschäftigung und schutzwürdigen Interessen des Arbeitgebers stattzufinden habe.
Hier kam das Arbeitsgericht zu dem Ergebnis, dass die schutzwürdigen Interessen des Arbeitgebers, der für die Bewohner des Seniorenheims verantwortlich ist, größeres Gewicht haben als das Interesse des Arbeitnehmers an der Beschäftigung.
Zur Begründung verwies das Gericht auf die Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vom 06.12.2021 (Bundestags-Drucksache 20/188).
Darin wird ausgeführt, dass eine sehr hohe Impfquote bei dem Personal in den Gesundheitsberufen und Berufen, die Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen betreuen, besonders wichtig sei. Dadurch werde das Risiko gesenkt, dass sich die besonders vulnerablen Personengruppen mit dem Coronavirus infizieren. Geimpfte und genesene Personen würden seltener infiziert und somit auch seltener zu Überträgern des Coronavirus. Sie seien, wenn sie trotz Impfung infiziert werden würden, weniger bzw. für einen kürzeren Zeitraum ansteckend. Somit, so die Begründung des Gesetzesentwurfs, sei das Risiko, das von Geimpften oder Genesenen ausgeht, deutlich geringer als das Risiko, das von ungeimpften Personen ausgeht.
In bestimmten Einrichtungen würden sich besonders viele vulnerable Personen aufhalten. Diese seien aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung durch eine Infektion besonders gefährdet. Sie hätten unter Umständen ein besonders hohes Risiko für schwere Verläufe.

Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass der Schutz von Leib und Leben von Bewohnern des Seniorenheimes ein höheres Gewicht habe als der Schutz des Rechts des Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung.

Bewertung / Tipp:
Es ist eine zulässige und gebräuchliche Methode der Auslegung von Gesetzen, dass für deren Auslegung auch die Gesetzesmaterialien von den Gerichten herangezogen werden. Wenn die Tatsachen zur Ansteckungsgefahr, die von Nichtgeimpften ausgeht, die der Gesetzesentwurf und im Anschluss daran das Gericht zugrunde gelegt haben, immer noch dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechen sollten, dürfte die Entscheidung richtig sein.
Kurz nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts Gießen hat das Bundesverfassungsgericht die einrichtungsbezogene Impfpflicht für verfassungsgemäß erklärt (BVerfG, Beschluss vom 10.02.2022, Aktenzeichen 1 BvR 2649/21).
Besonders interessant an der vorliegenden Entscheidung ist, dass der Kläger schon vor dem 16.03.2022 beschäftigt war. § 20 a Abs. 3 Satz 4 und 5 des Infektionsschutzgesetzes sehen für Arbeitnehmer ohne entsprechende Nachweise ein Beschäftigungs- und Tätigkeitsverbot vor, wenn sie nach diesem Termin beim Arbeitgeber tätig werden sollen. Der Kläger hatte argumentiert, dass diese Verbote für ihn nicht gelten würden, weil sein Arbeitsverhältnis am Stichtag schon bestanden habe.
Das Arbeitsgericht Gießen führte aus, dass dieser Umkehrschluss nicht zu ziehen sei. Der Gesetzgeber habe mit seiner Regelung die Funktionsfähigkeit von Einrichtungen sicherstellen wollen. Das ändere aber nichts daran, dass grundsätzlich auch am Stichtag schon beschäftigte Personen vom Arbeitgeber freigestellt werden dürften.

Das Landesarbeitsgericht Frankfurt am Main hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts Gießen bestätigt. Eine schriftliche Urteilsbegründung des Urteils des Landesarbeitsgerichts liegt noch nicht vor. Der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts dazu ist zu entnehmen, dass es davon ausgegangen ist, dass der erforderliche Impfnachweis so wie eine berufliche Tätigkeitsvoraussetzung wirke. Die Interessenabwägung scheint ähnlich begründet zu sein wie diejenige des Arbeitsgerichts Gießen.
(eingestellt am 08.09.2022)