Tipps und Urteile

Bricht die Arbeitgeberin ein BEM einseitig ab, ohne dem erkrankten Arbeitnehmer Gelegenheit zu einer abschließenden Stellungnahme zu geben, so ist das BEM nicht gesetzeskonform.
Dem Betriebsrat müssen die Umstände der Beendigung des BEM wahrheitsgemäß mitgeteilt werden. Auch müssen die Arbeitsunfähigkeitszeiten präzise mitgeteilt werden. Geschieht dies nicht, so ist die Kündigung gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz unwirksam wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats. (Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven, Urteil vom 24.02.2022, Aktenzeichen 8 Ca 8152/21)

Der Kläger ist Arbeitnehmer eines internationalen Konzerns, der am Standort Bremen ca. 2500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
Er war vom Jahr 2015 bis zum 31. Mai 2021-jährlich zwischen 52 Kalendertagen und 203 Kalendertagen arbeitsunfähig.
Nachdem er in den Jahren 2011-2017 mehrfach zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen worden war, lud die Arbeitgeberin ihn mit Schreiben vom 18.03.2019 erneut zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement ein. Bis zum Frühjahr 2021 hatte in etwa alle 4 Wochen ein BEM-Gespräch stattgefunden. Wegen der Krankheit konnte der Kläger dann nicht weiter an BEM-Gesprächen teilnehmen. Es gab eine Absprache zwischen dem Kläger und der BEM-Beauftragten, im September 2021 einen weiteren Termin zu finden. Die BEM-Beauftragte brach dann aber am 16.07.2021 das BEM ab. Nach Anhörung des Betriebsrats erklärte die Arbeitgeberin die Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Das Arbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Kündigung unwirksam war. Die Arbeitgeberin hat, so das Arbeitsgericht, kein regelkonformes BEM durchgeführt. Diese Beurteilung stützte das Arbeitsgericht darauf, dass die Arbeitgeberin das BEM einseitig abgebrochen hatte.
Das Arbeitsgericht stützte sich insbesondere auf die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Nach dessen Rechtsprechung ist das BEM ein verlaufs- und ergebnisoffener Suchprozess, der zu individuellen Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeitszeiten führen soll. Abgeschlossen ist ein BEM, so das Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich einig sind, dass der Suchprozess zu Ende durchgeführt sei oder nicht zu Ende durchgeführt werden soll. Dem sei es gleichzustellen, wenn der Arbeitnehmer seine Zustimmung zur weiteren Durchführung nicht erteile.
Grundsätzlich könne der Arbeitgeber nicht einseitig das BEM beenden. Das kann er erst, wenn von keiner der beteiligten Stellen mehr erfolgversprechende Maßnahmen aufgezeigt werden können.

Die Arbeitgeberin hätte dem erkrankten Arbeitnehmer Gelegenheit zur Aktualisierung des Genesungsstandes geben müssen. Dazu reiche es keinesfalls aus, wenn die Arbeitgeberin auf dem BEM-Abschlussprotokoll die Variante „abgebrochen“ ankreuze. Das Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven wertete daher die Kündigung als unverhältnismäßig.

Die Arbeitgeberin hatte bei der Anhörung des Betriebsrats den Betriebsrat mitgeteilt, dass BEM sei erfolglos abgeschlossen worden. Das Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven sah darin einen Verstoß der Arbeitgeberin gegen ihre Pflicht aus § 102 Abs. 1 Sätze 1 und 2 zur ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats. Da die Arbeitgeberin das BEM einseitig abgebrochen hatte, hätte sie auch genau dies dem Betriebsrat mitteilen müssen.
Außerdem hatte die Arbeitgeberin dem Betriebsrat mitgeteilt, dass der Kläger im Jahre 2022 an 82 Arbeitstagen krankheitsbedingt gefehlt habe. Im Verlauf des Prozesses hat sich herausgestellt, dass das nicht 82 Arbeitstage, sondern Kalendertage gewesen waren. Ebenso war der Betriebsrat so informiert worden, dass der Arbeitnehmer im Jahre 2021 an 59 Arbeitstagen ausgefallen sei, während es sich tatsächlich um Kalendertage gehandelt hatte.
Dem Betriebsrat seien also für seine Entscheidung falsche Basiszahlen mitgeteilt worden. Auch dies mache die Betriebsratsanhörung fehlerhaft.

Bewertung / Tipp:
Eine gut begründete Entscheidung, die gerade für den Anfänger im Arbeitsrecht sehr lesenswert ist, weil sie die Grundsätze der gerichtlichen Überprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung gut verständlich und gegliedert darlegt.
Das Urteil befindet sich, wie erwähnt, im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Das Arbeitsgericht hat insbesondere verwiesen auf das neueste Urteil vom 18.11.2021 (Aktenzeichen 2 AZR 138/21) zu diesem Thema.

Auch die Feststellungen zur ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung überzeugen. Natürlich wird es aus Sicht eines Betriebsrats, der den Vorgang nicht kennt, einen Unterschied machen, ob ihm mitgeteilt wird, dass die BEM-Beauftragte gewissermaßen aus Eigeninitiative die Variante „abgebrochen“ angekreuzt hat oder ob dem Betriebsrat mitgeteilt wird, dass dem Arbeitnehmer keine Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme gegeben worden ist.
Da der Anzahl der Krankheitstage auch ein Maßstab für die Beurteilung der Wirksamkeit einer personenbedingten Kündigung ist, müssen dem Betriebsrat auch die Fehlzeiten korrekt mitgeteilt werden.

Was kann man als „Endverbraucher“ daraus lernen?
1.
In aller Regel ist es für den erkrankten Arbeitnehmer von Vorteil, wenn er sich mit einem BEM, das der Arbeitgeber anbietet, einverstanden erklärt.

Ich empfehle Ihnen Betroffenem / Betroffener, sich vor den BEM-Gesprächen durch Betriebsräte Ihres Vertrauens und, falls Sie zum Kreis der schwerbehinderte Menschen gehören, durch einen Schwerbehindertenvertreter und / oder einen Mitarbeiter des Integrationsfachdienstes und / oder einen versierten Rechtsanwalt coachen zu lassen. Der gesamte BEM-Prozess sollte durch einen Berater begleitet werden.
2.
Beteiligen Sie sich an Betriebsratswahlen, als Wahlbewerber / in oder als Wähler / in! Dieser Fall zeigt deutlich, dass allein das Bestehen eines Betriebsrats dazu führen kann, dass eine Kündigung unwirksam ist. Das Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven hat im Einklang mit Gesetz und Rechtsprechung die Kündigung allein wegen der nicht ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats für unwirksam erklärt.
Wie der Betriebsrat sich inhaltlich geäußert hat, ob er sich zustimmend oder ablehnend zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses geäußert hat, spielt nach dem Gesetz zur Frage der Unwirksamkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses keine Rolle. Besteht ein Betriebsrat, so bedeutet dies aber zumindest für die Arbeitgeberseite eine zusätzliche Fehlerquelle beim Ausspruch von Kündigungen.

Weitere Informationen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement finden Sie hier:
https://www.anwalt-fuer-arbeitsrecht-bremen.de/arbeitsrecht-fuer-betriebsraete/betriebliches-eingliederungsmanagement

(eingestellt am 15.08.2022)