Tipps und Urteile

Darf man sich selbst beurlauben? (Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 23.11.2021, Aktenzeichen 5 Sa 88/21)
Ich schätze, die meisten meiner Leser werden diese Frage spontan mit „Nein“ beantworten. Und diese Antwort würde auch das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern geben. Mir kommen immer wieder einmal Sachverhalte auf den Tisch, bei denen es ähnlich gelaufen ist wie in dem vorliegenden Fall. Oft ist eine Menge Frust vorausgegangen, weil ordnungsgemäße Urlaubsanträge von Arbeitgeberseite eine überlange Zeit nicht bearbeitet worden sind. Oft stecken tiefergehende Konflikte dahinter.

Der Kläger des vorliegenden Verfahrens war Arbeitnehmer eines Busunternehmens, das Busse auf festen Buslinien betrieb. Er war als Busfahrer tätig. Die Arbeitgeberin verhandelte mit der Gewerkschaft VerDi über einen Tarifvertrag. Der Kläger war auf einer Gewerkschaftsversammlung am 14.09.2020 als Nachrücker in die Tarifkommission gewählt worden. Ein Mitglied der Tarifkommission konnte wegen Erkrankung an dem für den 16.09.2020 anberaumten Verhandlungstermin nicht teilnehmen. Deshalb beantragte der Arbeitnehmer am 15.09.2020 bei seinem Vorgesetzten Urlaub für die Zeit der Teilnahme an der Verhandlung am 16.09.2020. Der Vorgesetzte lehnte das wegen Personalmangels ab. Er wies darauf hin, dass es keine gesetzliche Grundlage für den geltend gemachten Urlaub gebe und der Arbeitnehmer Arbeitspflicht hätte. Der Arbeitnehmer fragte einen Kollegen, ob dieser seinen Dienst am 16.09.2020 übernehmen könne. Der Kollege war dazu auch bereit, konnte den Dienst aber nur bis 15:00 Uhr ausführen, weil er sein Kind vom Kindergarten abholen musste. Der Arbeitnehmer nahm einen Teil seines Dienstes am 16.09.2020 noch wahr. Dann verabschiedete er sich bei seinem Vorgesetzten mit den Worten „Ich begebe mich jetzt nach C-Stadt zu der Tarifverhandlung.“ Der Vorgesetzte wies ihn eindringlich auf seine Arbeitspflicht hin. Der Arbeitnehmer antwortete „ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Herr N.“. Er nahm dann den Rest des Arbeitstages an den Tarifverhandlungen teil. Da der Ausfall des Arbeitnehmers durch den Kollegen nicht vollständig aufgefangen werden konnte, musste ein Werkstattmechaniker eine Tour übernehmen, bei der Grundschulkinder zu transportieren waren. Es mussten darüber hinaus Linien zusammengelegt werden, sodass die Busse nicht die vorgesehene Tour fahren konnten. Einige Touren fielen ersatzlos aus. Die Arbeitgeberin kündigte daraufhin fristlos.
Sowohl das Arbeitsgericht Stralsund als auch das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern bestätigten die Wirksamkeit dieser Kündigung.
Dem Arbeitnehmer half nicht, dass es eine tarifvertragliche Regelung gab, wonach auf Anforderung der beteiligten Gewerkschaft Teilnehmern an Tarifverhandlungen Arbeitsbefreiung erteilt werden konnte, denn eine formelle Anforderung der Gewerkschaft entsprechend dieser Regelung gab es nicht.
Das Landesarbeitsgericht kam nach Würdigung der Umstände, des Gewichts und der Auswirkungen der Vertragspflichtverletzung, des Grads des Verschuldens des Arbeitnehmers und der Frage, ob eine mögliche Wiederholungsgefahr bestehe zu der Auffassung, dass eine Weiterbeschäftigung dem Arbeitgeber auch über die Dauer der normalen Kündigungsfrist nicht zuzumuten sei. Es führte aus, dass grundsätzlich bei steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers zunächst zu prüfen sei, ob eine Abmahnung ausreiche, um den Arbeitnehmer zu zukünftig vertragstreuem Verhalten zu bringen. Das Landesarbeitsgericht bestätigte aber die Auffassung des Arbeitsgerichts Stralsund, dass wegen der Beharrlichkeit der Arbeitsverweigerung und der Inkaufnahme der Tatsache, dass sein Dienst zumindest ab 15:00 Uhr nicht mehr abgedeckt sei, das Vertrauensverhältnis so schwerwiegend gestört sei, dass eine fristlose Kündigung gerechtfertigt sei.

Tipp / Bewertung:
Den 1. Tipp können Sie sich sicher selbst geben: beurlauben Sie sich nicht selbst. Dazu sind Sie nicht berechtigt, auch wenn Sie möglicherweise tatsächlich einen Anspruch auf Urlaubsgewährung haben.
2. Tipp: Wenn Sie Urlaub benötigen, beantragen Sie diesen so schnell wie möglich. Für den Fall, dass die Arbeitgeberseite nicht in angemessener Frist reagiert, gibt es die Möglichkeit, eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht zu beantragen.
Im vorliegenden Fall wäre ein solcher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zeitlich gar nicht möglich gewesen. Hier hätte der Arbeitnehmer besser auf den Urlaub verzichtet.
Der 3. Tipp: Versuchen Sie, in emotional aufgeheizten Situationen kühlen Kopf zu bewahren und geben Sie sich noch eine Nacht, „um darüber zu schlafen“ oder holen Sie Rechtsrat ein. Das hätte der Arbeitnehmer im vorliegenden Fall besser auch gemacht. Ich kann mir vorstellen, dass er subjektiv sein Verhalten wegen der Regelung im Tarifvertrag für rechtmäßig hielt.
Das Arbeitnehmer sich nicht selbst beurlauben dürfen, ist auch durch mehrere Urteile des Bundesarbeitsgerichts festgestellt worden.