Tipps und Urteile

Es reicht nicht aus, wenn die Arbeitgeberin vor Ausspruch einer Verdachtskündigung nur den Arbeitnehmer zu den Vorwürfen anhört. Sie muss alle Erkenntnisquellen ausnutzen, die ihr zur Verfügung stehen, um den Sachverhalt aufzuklären. Das folgt aus der Gefahr, dass durch eine Verdachtskündigung ein Unschuldiger seinen Arbeitsplatz verliert (Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 08.06.2021, Aktenzeichen 6 Sa 723/20)
Die Arbeitgeberin, ein Getränke-Vertrieb, hatte mit Schreiben vom 11.11.2019 das Arbeitsverhältnis des Klägers fristlos und hilfsweise fristgerecht gekündigt. Er war als Bezirksleiter bei ihr seit dem 01.08.2012 beschäftigt. Der Vorwurf der Arbeitgeberin lautete, dass der Kläger über seinen Laptop und seinen PC 6 Fantasie-Kunden in dem IT-System der Beklagten angelegt haben sollte. Er habe diesen Fantasie-Kunden einen Rabatt von 95 % eingerichtet. Außerdem habe er die Marktleiter angewiesen, den Fantasiekunden die Ware auszuhändigen, ohne Lieferscheine auszustellen. Der Kläger habe den Mitarbeitern vor Ort mitgeteilt, „die Industrie“ würde die 95 % Differenz ausgleichen.
Der Kläger war angehört worden, bestritt aber die Vorwürfe unter Hinweis darauf, dass in der Verwaltung jeder die falschen Kunden hätte anlegen können, da dort seine Zugangsdaten bekannt gewesen seien.
Die Arbeitgeberin erhob eine Widerklage gegen den Kläger in Höhe von 566.961,46 €.

Sowohl das erstinstanzliche Arbeitsgericht Köln als auch das Landesarbeitsgericht bemängelten an dem Vortrag der Arbeitgeberin, dass die Arbeitgeberin zur Täterschaft des Klägers nicht ausreichend vorgetragen hatte. Sie legte Screenshots und Excel-Tabellen vor, ohne jedoch – und zwar trotz genauer Nachfragen der Richter – darzulegen, welchen Schluss die Unterlagen auf die Täterschaft des Klägers erlaubten. Die Vertragsverletzungen des Klägers würden sich „aus dem System“ ergeben.
Unstreitig war, dass nicht nur der Kläger, sondern auch der Verwaltungsleiter der Beklagten selbst, der Prokurist A sowie möglicherweise noch ein Systemadministrator Zugang zum Passwort und zum Kennwort des Klägers gehabt hätten.
Das Landesarbeitsgericht pointierte: „Eine Vertragspartei macht hier also Ansprüche gegen eine andere Vertragspartei unter Bezugnahme auf ein IT-System geltend, dessen Inhalt sie selbst bestimmen kann. Würde ein Zulieferer der Beklagten sich dieser Begründungsstruktur bedienen und der Beklagten gegenüber einen 6-stelligen Zahlungs- oder Schadensersatzanspruch geltend machen, würde die Beklagte möglicherweise, ähnlich wie der Kläger im vorliegenden Verfahren, argumentieren, es reiche nicht aus, Rechenergebnisse mit einem Excel-Datenblatt vorzulegen verbunden mit dem Beweisangebot, es möge ein Computerspezialist oder ein Prokurist aus dem Betrieb des Kunden zur Behauptung vernommen werden, der Inhalt des Excel-Datenblattes sei richtig. Eine Darlegung von Manipulationen im Warenwirtschaftssystem und die Darlegung von Betrugshandlungen zur Begründung einer Kündigung setzt mehr voraus als dies.“
Dieser Vortrag genüge nicht den Anforderungen an eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung und Sachverhaltsaufarbeitung.
Auch zu den Anweisungen des Klägers gegenüber Marktleitern, Waren ohne Lieferscheine herauszugeben, hatte die Beklagte nicht detailliert genug vorgetragen. Es wäre vorzutragen gewesen, was der Kläger wem wann gesagt haben soll. Diese Frage hat das Gericht dem Prozessbevollmächtigten der Arbeitgeberin in der Berufungsverhandlung ausdrücklich gestellt, er hatte sie aber nicht beantwortet.

Ausdrücklich wies das Gericht darauf hin, dass wegen der Gefahr, dass ein unschuldiger Arbeitnehmer gekündigt werden könne, dem Arbeitgeber in besonderem Maße zuzumuten sei, alle verfügbaren Erkenntnisquellen zur Erforschung des Sachverhalts auszuschöpfen.
Der gegen die Kündigungen gerichteten Klage wurde in beiden Instanzen stattgegeben. Die Widerklage wurde in beiden Instanzen abgewiesen.

Bewertung / Tipp:
Dem Urteil ist zuzustimmen. Es zeigt, dass an den Nachweis des Verdachts hohe Anforderungen zu stellen sind. So kann es sich lohnen, solche Kündigungen einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Betriebsräte sollten bei der Anhörung gemäß § 102 Betriebsverfassungsgesetz die von der Arbeitgeberseite vorgelegten Unterlagen und Erläuterungen dazu besonders kritisch prüfen.
(eingestellt am 22.11.2022)