Tipps und Urteile

Ein AT-Beschäftigter hat Anspruch auf eine Vergütung, die den tarifvertraglich vereinbarten Mindestabstand zur höchsten nach Tarifvertrag möglichen Vergütung wahrt. Und wann ist man eigentlich AT-Beschäftigter? (Arbeitsgericht Braunschweig, Urteil vom 03.02.2022, Aktenzeichen 8 CA 184/21)
Es ging hier um einen beträchtlichen Betrag, nämlich 36.687,26 € brutto. Diesen Betrag machte der Kläger geltend mit dem Argument, er sei AT-Beschäftigter. Er war bei der Beklagten Arbeitgeberin seit dem 01.05.2009 als „Vertriebsbeauftragter Bayern“ beschäftigt.
Für die Höhe der geltend gemachten Summe berief er sich auf eine von der „Bezirksleitung der IG Metall“ erstellte jährliche Übersichtsrechnung über die Höhe des AT-Mindestentgelts. (In dem Urteil wird nicht erwähnt, um welche Bezirksleitung es sich handelt, aufgrund der örtlichen Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Braunschweig ist anzunehmen, dass es die IG Metall Bezirksleitung für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt in Hannover ist.) Die Bezirksleitung hatte für das Jahr 2020 ein Mindestentgelt von 96.132,78 € brutto ermittelt. Da der Kläger für das Jahr 2020 lediglich 59.645,52 € brutto erhalten hatte, machte er den Differenzbetrag geltend.

Die Arbeitgeberseite berief sich darauf, dass der Kläger kein AT-Mitarbeiter gewesen sei. In dem Arbeitsvertrag vom 08.04.2009 sei der Kläger nicht als außertariflicher Mitarbeiter bezeichnet worden. Ihm sei nicht zugesagt worden, dass immer ein bestimmter Abstand zu den tariflichen Entgelten eingehalten werden würde. Er sei Vertriebsmitarbeiter, und bei den Vertriebsmitarbeitern handele es sich um Mitarbeiter ohne klassische tarifvertragliche Eingruppierung.

Diese Argumente der Arbeitgeberseite überzeugten das Arbeitsgericht nicht. Es ermittelte durch Auslegung, ob der Kläger AT-Beschäftigter sei. Es stützte sich dabei auf die höchstrichterliche Rechtsprechung (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.04.2018, Aktenzeichen 5 AZR 84/17), wonach außertarifliche Mitarbeiter Arbeitnehmer sind, deren Vergütung gerade deshalb nicht durch Tarifvertrag geregelt ist, weil ihre Tätigkeit höher zu bewerten ist als die Tätigkeit in der höchsten Tarifgruppe. Sinn und Zweck des AT-Vertrags sei, das Arbeitsverhältnis auf eine vom Tarifvertrag unabhängige Grundlage zu stellen.

Im Arbeitsvertrag sei der Kläger zwar nicht als AT-Beschäftigter bezeichnet worden. Aber die Beklagte hatte dem Kläger bereits im Juni 2014 eine Handlungsvollmacht erteilt. Außerdem besteht bei der Beklagten eine Betriebsvereinbarung zur Durchführung der Mitarbeitergespräche, die einen besonderen Bogen „Leistungsbeurteilung AT Mitarbeiter“ vorsieht. Mit diesem Bogen nahm die Beklagte die individuell mit dem Kläger geführten Mitarbeitergespräche vor. Und in den Leistungsbeurteilungen, die er erhielt, hieß es „Leistungsbeurteilung AT-Mitarbeiter“.

Außerdem erhielt der Kläger im November 2018 ein Schreiben, in dem er über einen Sanierungstarifvertrag informiert wurde. In dem Schreiben wurde ihm mitgeteilt „für die AT-Beschäftigten (…) resultiert daraus für 2018 folgende Regelung: (…)“

In einer E-Mail aus April 2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit: „Sie haben am 11.04.2009 einen außertariflichen Arbeitsvertrag mit dem Rechtsvorgänger abgeschlossen, der auch für die (Beklagte) eine Rechtsgültigkeit hat. (…) Als Vertriebsmitarbeiter ist Ihr Gehalt als „AT-PROV“ im Unternehmen geführt. (…) Allein aufgrund dieser Gehaltskonstellation„AT-PROV“ ergibt sich schon kein Rechtsanspruch aus dem MTV (…).“

Das alles, so das Gericht, lässt „nur den Schluss zu, dass die Parteien sich darüber einig gewesen sind, dass es sich bei dem Kläger um einen außertariflich beschäftigten Mitarbeiter (…) handelt.“
Er sei von der Beklagten, wie man der obigen Korrespondenz und seinen Leistungsbeurteilungen entnehmen kann, als außertariflicher Mitarbeiter behandelt worden. Auch hinsichtlich des Sanierungstarifvertrages sei er so behandelt worden. Und in der Vergangenheit habe er auch ein Arbeitsentgelt erhalten, das den Mindestabstand zur tariflichen Entgeltgruppe wahrte.

Dementsprechend wurde die Beklagte zur Zahlung des eingangs genannten Betrages verurteilt.

Bewertung / Tipp:
In dem Urteil wird, wie oben ausgeführt, nicht erwähnt, welche Bezirksleitung der IG Metall aufgrund welchen Tarifvertrags Berechnungen zum AT-Mindestentgelt angestellt hat. Da hier das Arbeitsgericht Braunschweig örtlich zuständig war, gehe ich davon aus, dass der Manteltarifvertrag (MTV) für die Beschäftigten in der niedersächsischen Metallindustrie vom 15.02.2018 in dem Urteil gemeint ist. In diesem MTV werden aussertariflich Beschäftigte ausdrücklich ausgenommen vom persönlichen Anwendungsbereich des MTV und definiert. So heisst es in § 1 Nummer 1.3b):
„Beschäftigte, (…) deren Jahreseinkommen geteilt durch zwölf das tarifliche Monatsgrundentgelt der Entgeltgruppe 13 C um mehr als 17,5 % (…) übersteigt.“

Aufgrund dieser Regelung, anhand derer die IG Metall Bezirksleitung Hannover das AT-Mindestentgelt errechnet haben dürfte, war es einfach, die Forderung des Klägers bis auf die Hundertstel hinter dem Komma zu errechnen.

Das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig ist ein begrüßenswertes Urteil. Hinsichtlich der Frage, wie der Sachverhalt zu bewerten war, hat das Gericht richtigerweise nicht danach geschaut, was im Arbeitsvertrag stand, sondern danach, wie das Arbeitsverhältnis von Arbeitgeberin und Arbeitnehmer tatsächlich gelebt und verstanden worden ist. Auch das Bundesarbeitsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung festgestellt, dass sich aus der Vertragsdurchführung darauf schließen lässt, „von welchen Rechten und Pflichten die Vertragsparteien ausgegangen sind, was sie also wirklich gewollt haben“ (BAG a. a. O. m. w. N., juris Rn. 20).
(eingestellt am 22.04.2022)