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Rechtsmissbräuchliche Freistellung einer leitenden Oberärztin von der Arbeit zur Erzwingung von Verhandlungen über die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses (Landesarbeitsgericht Kiel, Urteil vom 06.02.2020, Aktenzeichen 3 SaGa 7 öD/19)
Die Klägerin des vorliegenden Verfahrens hat vor dem Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein eine einstweilige Verfügung beantragt. Sie war bei der Beklagten, Rechtsträgerin einer Universitätsklinik, bereits seit September 2001 beschäftigt, zur Zeit der Entscheidung also seit ca. 18 Jahren. Seit 2010 ist sie Fachärztin für Herzchirurgie. Ab 01.02.2016 wurde sie geschäftsführende Oberärztin für Herz- und Thorakale Gefäßchirurgie bei der Beklagten. Im Januar 2016 hat sie an der Universität L habilitiert und ist als Hochschullehrerin, wie auch arbeitsvertraglich vereinbart, wissenschaftlich tätig, mit Forschungsschwerpunkt Herzchirurgie. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit betreute sie 18 Doktorandinnen und Doktoranden bei deren Promotionsverfahren. Ihre Tätigkeit bei der Beklagten bestand arbeitsvertraglich aus Mitwirkung an der Krankenversorgung, Mitwirkung bei Lehrveranstaltungen und Durchführung von Lehrveranstaltungen sowie der erwähnten wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Beklagte hat sie zur Strahlenschutzbeauftragten bestellt. Sie genießt deshalb besonderen Kündigungsschutz nach dem Strahlenschutzgesetz, darüber hinaus genießt sie tarifvertraglichen Kündigungsschutz.

Die Beklagte stellte im April 2018 einen neuen Chefarzt für die Klinik für Herz- und Thorakale Gefäßchirurgie ein. Dieser, so das Urteil, „brachte zeitgleich mehrere Oberärzte und einen Assistenzarzt mit.“ Damit war das ursprüngliche Team der Klinik personell überbesetzt.
Nach dem Arbeitsantritt des neuen Chefarztes Prof. Dr. E. kam es zu Spannungen zwischen den beiden. Es fanden Verhandlungen über einen alternativen Einsatz der Klägerin statt, die jedoch kein Ergebnis hatten. Die Klägerin erkrankte nach April 2018 mehrfach und wiederholt auch über längere Zeiträume. Im November 2019 war ihre Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt. Sie hatte auch unter dem 27.06.2019 eine Abmahnung erhalten, über die ein weiteres Gerichtsverfahren geführt wurde. Als die Klägerin Ende November 2019 aus ihrer Arbeitsunfähigkeit zurückkehrte, stellte die Beklagte sie unwiderruflich von der Arbeit frei. In dem Freistellungsschreiben wurde ausgeführt, dass die Freistellung „insbesondere auch für Verhandlungen über die Aufhebung bzw. Abwicklung ihres Anstellungsverhältnisses“ aufrechterhalten bleibe.
Die Klägerin musste ihre Mitarbeiterausweise, Zugangsberechtigungen, ihren Laptop, Datenträger, Visitenkarten und Schlüssel bei der Arbeitgeberin abgeben. Außerdem wurde der Account der Klägerin im Intranetsystem der Beklagten gelöscht. Sie hatte keine Systemzugänge mehr zur Klinik, auch nicht zur Universität zu L.. Später löschte die Beklagte die Klägerin sogar von ihrer Homepage.
Die Klägerin beantragte zunächst vor dem Arbeitsgericht Lübeck den Erlass einer einstweiligen Verfügung auf vertragsgemäße Beschäftigung als geschäftsführende Oberärztin.

Sie hatte dort Erfolg. Die Arbeitgeberin legte Berufung ein. Das Landesarbeitsgericht bestätigte jedoch die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts.
Im wesentlichen berief die Beklagte sich darauf, dass die Freistellung nicht grundlos erfolgt sei, sondern wegen Spannungen im Team insbesondere zwischen der Klägerin und dem neuen Chefarzt. Es sei aber wegen der Besonderheiten eines solchen Arbeitsverhältnisses sehr wichtig, dass der Chefarzt mit seinen Teammitgliedern vertrauensvoll zusammenarbeitet.
Die Klägerin berief sich darauf, dass sie einen Reputationsverlust befürchten müsse und durch die Freistellung und die Trennung vom Intranetsystem eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gegeben sei.

Das Landesarbeitsgericht führte aus, dass es rechtlich unbeachtlich sei, dass – wie offenbar von der Beklagten vorgetragen – es üblich sein soll, dass bei einem Chefarztwechsel der neue Chef das Ärzteteam insgesamt an seine Bedürfnisse anpasse und es in seinem Ermessen stehen solle, mit welchen Assistenzärzten und Oberärzten er zusammenarbeiten wolle.
Die Arbeitgeberin sei verantwortlich für die korrekte Ausübung ihres Direktionsrechts und die Beachtung arbeitsrechtlicher Vorschriften. Diese Verantwortung könne sie nicht an Dritte abgeben. Sie habe die gesetzlichen Spielregeln einzuhalten. Das Problem, dass durch Einstellung einer ganzen Gruppe von neuen Ärzten ein Personalüberhang mit Doppelbesetzung entstanden sei, hätte sie vor der Einstellung lösen müssen. Es sei kein schutzwürdiges Interesse der Arbeitgeberin erkennbar.
Die Arbeitgeberin habe ihre rechtliche Möglichkeit, die Arbeitnehmerin von der Arbeit freizustellen, missbraucht, um Verhandlungen zum Ausscheiden der Klägerin aus dem Arbeitsverhältnis zu erzwingen. Kein Arbeitnehmer sei verpflichtet, Verhandlungen über die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitgeber aufzunehmen.
Die Arbeitgeberin habe die Klägerin mit ihrer Entfernung von der Homepage und Aufhebung der Zugänge zur EDV unsichtbar gemacht. Sie sei für die Krankenversorgung sowie Wissenschaft und Forschung nach außen hin „nicht mehr existent“ gewesen.

Bewertung / Erläuterung
Es ist schon erstaunlich, welches „Rechtsbewusstsein“ da bei der Arbeitgeberin herrschte. Man schien zu glauben, dass es das Recht der Arbeitgeberin sei, es dem Chefarzt zu überlassen, „sein“ Team nach seinen Bedürfnissen und seinem Gutdünken zusammenzustellen. Darüber hinaus schien man zu glauben, dass es durchaus im Sinne der Rechtsordnung sei, die Oberärztin von der Arbeit freizustellen, um sie für Verhandlungen über die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses gefügig zu machen.
Selten leuchtet die Empörung eines Gerichts aus seiner Entscheidung so deutlich hervor wie in diesem Fall. Zu Recht, denn die Vorgehensweise der Antragsgegnerin war völlig maßlos.

Zum Beschäftigungsanspruch: in der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber einen Anspruch auf tatsächliche arbeitsvertragsgemässe Beschäftigung hat. Das ergibt sich aus Art. 2 unseres Grundgesetzes, der das Persönlichkeitsrecht schützt. Dieser Schutz bedeutet für das Arbeitsverhältnis, dass der Arbeitnehmer sich an seinem Arbeitsplatz entwickeln und persönlich entfalten kann.
Im laufenden Arbeitsverhältnis ist daher eine einseitige Freistellung durch den Arbeitgeber rechtswidrig, selbst dann, wenn der Arbeitgeber die Vergütung weiter zahlt.
Ausnahmen gelten nur bei besonders schutzwürdigen Interessen des Arbeitgebers, beispielsweise strafbares Verhalten des Arbeitnehmers, ansteckende Krankheiten, aber auch Nichtvorhandensein von Arbeit.(eingestellt am 01.06.2021)