Tipps und Urteile

Eine approbierte Ärztin in der Weiterbildung zur Fachärztin darf nicht 42 Monate lang an ihren Arbeitsvertrag gebunden werden. Dies benachteiligt die in der Weiterbildung befindliche Ärztin entgegen den Grundsätzen von Treu und Glauben unangemessen. Eine entsprechende Vertragsklausel ist gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. (Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10.05.2021, Aktenzeichen 1 Sa 12/21)
Die Klägerin dieses Verfahrens war als approbierte Ärztin in einem medizinischen Versorgungszentrum zur Weiterbildung zur Fachärztin angestellt. Das Arbeitsverhältnis begann Anfang Februar 2016. Nach dem Formulararbeitsvertrag, den die Arbeitgeberin mit ihr abgeschlossen hatte, war eine Probezeit von 5 Monaten vereinbart. Nach Ablauf der Probezeit war eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses 37 Monate lang für die Ärztin nicht möglich. Das Arbeitsverhältnis hätte bis Ende Juli 2019 nicht ordentlich gekündigt werden können. Die Ärztin kündigte das Arbeitsverhältnis trotzdem zu Ende Februar 2018. Grund ihrer Kündigung war, dass sie zu ihrem Ehemann ziehen wollte.
Daraufhin machte die Arbeitgeberin eine Vertragsstrafe in Höhe von ca. rund 14.000 € geltend, die in dem Arbeitsvertrag für den Fall vorgesehen war, dass die Ärztin vor Ablauf von 42 Monaten kündigte. Sie zahlte das letzte Gehalt an die Ärztin nicht aus, weil sie mit ihrer Forderung gegen die Arbeitnehmerin aufrechnete. Die Arbeitnehmerin erhob Klage wegen des Februar-Gehalts, die Arbeitgeberin reagierte mit einer Widerklage wegen der Vertragsstrafe.

Ebenso wie das erstinstanzliche Arbeitsgericht Ulm kam das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg zu dem Ergebnis, die Arbeitgeberin zur Zahlung des Februar-Gehalts zu verurteilen und ihre Widerklage abzuweisen.
Beide Gerichte vertraten die Auffassung, dass die Regelung des Arbeitsvertrages die Ärztin unangemessen benachteiligte (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB). Als Orientierungsmaßstäbe zog das Landesarbeitsgericht die gesetzliche Kündigungsfrist (4 Wochen gemäß § 622 Abs. 1 BGB) sowie die einschlägigen tarifvertraglichen Bestimmungen heran (bei einer Beschäftigungsdauer von einem Jahr 1 Monat zum Monatsende und bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als einem Jahr 6 Wochen zum Quartalsende gemäß § 35 Abs. 1 TV-Ärzte / VKA und auch gemäß § 34 TV Ärzte Universitätskliniken).
Das Landesarbeitsgericht setzte sich mit den beiderseitigen Interessen von Arbeitgeber/in und einer / einem Arzt / Ärztin in der Weiterbildung auseinander. Die unangemessene Benachteiligung sah das Gericht darin, dass die weiterzubildende Ärztin durch den Vertrag gehindert wurde, den Weiterbildungsträger zu wechseln, falls die Weiterbildung nicht entsprechend ihren Vorstellungen verlaufen sollte. Das konnte sie nur, wenn sie eine Vertragsstrafe in empfindlicher Höhe in Kauf nahm. Das Gericht sah darin eine erhebliche Einschränkung ihrer beruflichen Bewegungsfreiheit.
Außerdem falle die Weiterbildung zum Facharzt in eine Lebensphase, die typischerweise mit der Familiengründung und auch mit der Berufswahl eine / r Lebenspartner / in zusammenfalle. Daher falle gerade in diese Phase eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die persönlichen Verhältnisse einen Ortswechsel nötig machen würden. Durch die Vertragsstrafe wird nach Auffassung des Gerichts ein Ortswechsel so intensiv erschwert, dass das Gericht auch Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (Schutz von Ehe und Familie) berührt sah.

Bewertung/Tipp:
Eine begrüßenswerte Entscheidung. Sie ist noch nicht rechtskräftig. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Diese wurde auch beim Bundesarbeitsgericht eingelegt und ist dort noch anhängig (Aktenzeichen 8 AZR 332/21).
Lange Vertragsbindungen sind immer problematisch. Sie kommen auch häufiger vor, wenn Arbeitgeber/innen den Arbeitnehmer/innen längere Fortbildungen finanzieren, bei denen die Arbeitnehmer/innen ihre Vergütung weiter erhalten, aber nicht im Betrieb tätig sind, sondern ihre Fortbildung absolvieren. Dazu gibt es eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die bei einer Fortbildung von bis zu einem Monat eine Bindungsdauer von bis zu 6 Monaten erlaubt, bei einer Fortbildung von bis zu 2 Monaten eine einjährige Bindungsdauer, bei 3-4 Monaten 2-jährige Bindungsdauer und bei 6 Monaten bis zu einem Jahr nicht länger als 3 Jahre.

Falls Sie ähnlich lange Vertragsbindungen in Ihrem Arbeitsvertrag haben sollten aber aus dem Arbeitsverhältnis heraus wollen, sollten Sie sich beraten lassen, ob die Dauer der Vertragsbindung zulässig ist.
(eingestellt am 22.08.2021)