Tipps und Urteile

Liegt eine Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen oder eines mit den schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Menschen vor, muss das Arbeitsgericht diese Entscheidung beachten und seiner Entscheidung zugrunde legen, solange die Entscheidung des Integrationsamtes nicht rechtskräftig aufgehoben ist. (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.07.2021, Aktenzeichen 2 AZR 193/21)
Rechtlicher Hintergrund der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts:
Die Kündigung eines schwerbehinderten oder eines mit den schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Menschen bedarf immer der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes (§ 168 SGB IX). Das gilt sowohl für ordentliche als auch für ausserordentliche und fristlose Kündigungen. Die Zustimmung muss der Arbeitgeber innerhalb von 2 Wochen nach Kenntnis der Tatsachen, die er zur Begründung der Kündigung heranziehen will, beantragen (§ 174 Abs. 2 SGB IX).
Das Integrationsamt muss über einen Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses innerhalb von 2 Wochen vom Eingang des Antrags des Arbeitgebers beim Integrationsamt entscheiden. Entscheidet es nicht rechtzeitig, so gilt die Zustimmung des Integrationsamtes als erteilt (§ 174 Abs. 3 SGB IX).

Sachverhalt:
Die Klägerin in diesem Verfahren war mit den schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Die Arbeitgeberin beantragte die Zustimmung zur außerordentlichen, vorsorglich auch der ordentlichen Kündigung mit Auslauffrist der Arbeitnehmerin. Das Integrationsamt teilte zunächst der Arbeitgeberin am 07.09.2018 mit, dass seine Zustimmung zur Kündigung wegen Fristablaufs gemäß § 174 Abs. 3 SGB IX als erteilt gelte. Daraufhin kündigte die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 10.09.2018 fristlos, hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist.

Die Arbeitnehmerin erhob Kündigungsschutzklage. Außerdem legte sie gegen den Bescheid des Integrationsamtes Widerspruch ein. Das Integrationsamt erteilte daraufhin einen Abhilfebescheid. Es hob den Bescheid vom 07.09.2018 auf mit der Begründung, dass die Arbeitgeberin die 2-Wochen-Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe und versagte jetzt die Zustimmung zu der Kündigung. Gegen den Abhilfebescheid erhob die Arbeitgeberin Klage vor dem Verwaltungsgericht. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts war das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht noch nicht entschieden.

Das Arbeitsgericht Frankfurt und auch das Hessische Landesarbeitsgericht gaben der Klage statt und erklärten die Kündigungen für unwirksam. Das Bundesarbeitsgericht hob die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts auf und verwies den Rechtsstreit zurück an das Landesarbeitsgericht.
Das Bundesarbeitsgericht sah den 1. Bescheid des Integrationsamtes als den maßgeblichen Bescheid an, nach dem der Arbeitgeber sich richten durfte. Es verwies auf § 171 Abs. 4 SGB IX, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung keine aufschiebende Wirkung haben:
„Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung (…) so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers (…) Die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht Bestands- bzw. rechtskräftig ist (…).“
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hätten also von der 1. Entscheidung des Integrationsamts ausgehen müssen.

Bewertung / Erläuterung/Tipp:
Der Weg über den Widerspruchsausschuss des Integrationsamtes und die Verwaltungsgerichte dürfte häufig langsamer sein als der Weg über die Arbeitsgerichte. Das bedeutet, es kann passieren, dass die Arbeitsgerichte rechtskräftig entscheiden, noch bevor eine rechtskräftige Entscheidung im Verwaltungsrechtsweg vorliegt. Für einen solchen Fall hat das Bundesarbeitsgericht darauf hingewiesen, dass es den Weg der Restitutionsklage gemäß § 580 Zivilprozessordnung gibt. Das ist eine Art von Wiederaufnahmeverfahren.

Dieser Fall mag exotisch wirken, doch hat eine ähnliche Variante schon einmal dem Bundesarbeitsgericht vorgelegen (Urteil vom 23.05.2013, Aktenzeichen 2 AZR 991/11).

Der Fall gibt mir Gelegenheit, auf die Mitwirkungspflichten schwerbehinderter Menschen und mit den schwerbehinderten gleichgestellter Menschen in Kündigungsverfahren vor dem Integrationsamt hinzuweisen.
Nachdem der Arbeitgeber einen Antrag beim Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung des Arbeitnehmers gestellt hat, wird der Arbeitnehmer darüber sowie die für ihn bestehenden Fristen zur Stellungnahme informiert. Diese Fristen sollten unbedingt beachtet werden, damit man als Arbeitnehmer die Chance hat, auch seine eigene Sachverhaltsdarstellung vor einer Entscheidung des Integrationsamtes zur Geltung zu bringen.
(eingestellt am 22.09.2021)