Tipps und Urteile

"Gelber Schein“ bzw- „Rosa Schein“ über das Internet: Ist eine Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung, die über ein Internetportal von einem Arzt erteilt wird, ausreichend für den Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit? (Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 01.04.2021, Aktenzeichen 42 Ca 16289/20)
Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Berlin reicht es nicht aus, wenn vom Arbeitnehmer vorformulierte Fragen durch Anklicken im Internet beantwortet wurden und kein Kontakt zwischen der Ärztin, die die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU- Bescheinigung) ausgestellt hat und dem Arbeitnehmer stattgefunden hat. Dann, so das Arbeitsgericht, kommt einer solchen AU- Bescheinigung nicht der hohe Beweiswert zu, der einer ärztlichen AU- Bescheinigung, die nach persönlichem Kontakt zwischen Ärztin und Arbeitnehmer erstellt worden ist, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung beigemessen wird. Nach der Auffassung des Arbeitsgerichts Berlin handelt es sich bei einer ohne persönlichen Kontakt zustandegekommenen AU- Bescheinigung nicht um eine „ordnungsgemäß ausgestellte AU- Bescheinigung“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.

Der Kläger des vorliegenden Verfahrens hatte unter anderem Entgeltfortzahlung für 6 Arbeitsunfähigkeitstage im August 2020 sowie 6 Arbeitsunfähigkeitstage im September 2020 gegen die Arbeitgeberin geltend gemacht. Die Klage wurde abgewiesen.

Das Arbeitsgericht verwies auf § 4 Abs. 1 Satz 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU- Richtlinie) in der damals gültigen Fassung. Danach durfte die Feststellung von Arbeitsunfähigkeit nur aufgrund einer unmittelbaren persönlichen ärztlichen Untersuchung erfolgen. Es galt eine Ausnahme aufgrund der Corona-Pandemie. Danach konnte eine AU- Bescheinigung auch aufgrund einer telefonischen Anamnese erfolgen. Das Arbeitsgericht Berlin schloss daraus, dass nicht einmal in der Pandemiesituation „ein geringerer persönlicher Kontakt als ein Telefonat zulässig sein“ solle. Das Arbeitsgericht sah daher die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers als nicht bewiesen an und wies deshalb die Zahlungsklage ab.

Interessant ist auch noch der Hinweis des Gerichts darauf, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit auch auf andere Weise hätte nachweisen können. Der Arbeitnehmer hatte dies versucht, indem er vorgetragen hatte, seine Lebenspartnerin und sein Arbeitskollege könnten bezeugen, dass er erkrankt gewesen sei. Diesen Vortrag hat das Gericht als nicht ausreichenden „Ausforschungsbeweis“ angesehen.

Erläuterung / Tipp:
Die AU- Richtlinie beruht auf dem Bundesmantelvertrag Ärzte, der auf Vorschriften des Sozialgesetzbuches zurückgeht. Die AU- Richtlinie gilt für alle Kassenärzte. Sie bestimmt unter anderem die Regeln, nach denen Ärzte bei der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit vorgehen müssen.

Die aktuelle Fassung der AU- Richtlinie (Stand: 01.04.2021) bestimmt in § 4 Abs. 1, dass die „Feststellung von Arbeitsunfähigkeit nur aufgrund einer unmittelbar persönlichen ärztlichen Untersuchung erfolgen“ darf. Gemäß Abs. 5 ist eine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auch „mittelbar persönlich im Rahmen von Videosprechstunden“ zulässig. Das aber nur, wenn der Versicherte in der Arztpraxis „aufgrund früherer Behandlung unmittelbar persönlich bekannt ist (…)“. Wenn das Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit festgestellt werden soll, ist dies „nur zulässig, wenn bei der oder dem Versicherten bereits zuvor aufgrund unmittelbar persönlicher Untersuchung durch die Vertragsärztin oder den Vertragsarzt Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit festgestellt worden ist.“
Nach dieser Fassung wäre es also nicht zulässig, wenn die AU- Bescheinigung aufgrund von Anklicken von standardisierten Antworten in einem Internet-Fragebogen erteilt werden würde, falls es keinen weitergehenden Kontakt zwischen Patient und Arzt geben würde, der in der oben beschriebenen Weise durchgeführt werden würde.

Gemäß § 5 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntFG) muss die Arbeitnehmerin der Arbeitgeberin die Arbeitsunfähigkeit durch eine ärztliche Bescheinigung nachweisen. Die Arbeitgeberin ist gemäß § 7 Abs. 1 EntFG berechtigt, die Entgeltfortzahlung zu verweigern, solange die Arbeitnehmerin eine solche Bescheinigung nicht vorgelegt hat.

Mir gefällt die Idee einer AU- Bescheinigung über das Internet sehr gut. Denn schon vor der Pandemie habe ich beim Besuch von Ärzten schon so manches Mal gedacht, dass ich, wenn ich bis jetzt noch keine Erkältungskrankheit habe, mich bei den anderen Patienten im Wartezimmer, die ersichtlich unter Erkältungskrankheiten litten, leicht würde infizieren können. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit über das Internet hilft, solche Infektionsherde zu entschärfen.
Als Arbeitnehmerin muss man sich aber bewusst sein, dass andere Arbeitsgerichte sich der Auffassung des Arbeitsgerichts Berlin anschließen könnten. Dann würde es im Streitfall Schwierigkeiten bei der Entgeltfortzahlung geben.
Wenn Sie Schwierigkeiten vermeiden wollen, ist es ratsam, dass Sie darauf achten, dass nach der AU- Richtlinie vorgegangen wird.

Der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch Zeugenaussagen ist keine Alternative im laufenden Arbeitsverhältnis. Im Arbeitsgerichtsprozess ist das möglich, wenn der Beweiswert einer vorgelegten AU- Bescheinigung infrage gestellt werden sollte. Dann reicht es aber nicht aus, vorzutragen, die Freundin habe mitbekommen, dass man krank gewesen sei, sondern es müsste konkret vorgetragen werden, dass die Freundin mitbekommen hat, dass zum Beispiel der Arbeitnehmer am XX.XX.20XX und am XX.XX.20XX die allgemein bekannten Erkältungssymptome wie Schnupfen, Fieber, Heiserkeit zeigte und über herabgesetzte Leistungsfähigkeit, Müdigkeit Kopfschmerzen, Schüttelfrost etc. klagte.