Tipps und Urteile

Diebstahl eines Liters Desinfektionsmittel im Wert von ca. 40,00 € rechtfertigt die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses (Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Aktenzeichen 5 Sa 483/20)
Bisher wurde das vollständige Urteil noch nicht veröffentlicht. Es gibt dazu bisher nur eine Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts.

Ein Arbeitnehmer war seit 2004 bei einem Paketzustellunternehmen beschäftigt. Hier war er gemeinsam mit 6 bis 7 Kollegen für die Be- und Entladung der Fahrzeuge sowie die Wäsche der Fahrzeuge zuständig. Die Wäsche der Fahrzeuge wurde in der Nachtschicht vorgenommen. Bei der Ausfahrt vom Betriebsgelände wurde vom Werkschutz bei einer Kontrolle eine ungeöffnete Flasche mit Desinfektionsmittel im Wert von 40,00 € gefunden. Der Arbeitgeber kündigte fristlos. Der Arbeitnehmer erhob Klage gegen die Kündigung. Vor dem Arbeitsgericht Mönchengladbach (Aktenzeichen 6 Ca 632/20) war der Kläger erfolglos. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf bestätigte das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach.

Der Arbeitnehmer hatte sich damit verteidigt, dass er sich während der Arbeit jede Stunde zu seinem Fahrzeug begeben habe, um seine Hände zu desinfizieren. Sein Pkw hatte in der Nähe gestanden. Er habe das Mittel sich und seinen Kollegen zur Verfügung stellen wollen.
Nach dem Vortrag der Arbeitgeberin hingegen soll der Kläger gegenüber den Mitarbeitern des Werkschutzes gesagt haben, er habe das Mittel mitnehmen dürfen, um sich unterwegs die Hände zu desinfizieren.
Die Gerichte glaubten dem Arbeitnehmer nicht. Gegen seine Sachverhaltsdarstellung sprach, dass er das Mittel direkt am Arbeitsplatz hätte deponieren können, wenn er es während der Arbeit hätte benutzen wollen. Und seinen Kollegen hatte er auch nicht gesagt, wo er das Desinfektionsmittel aufbewahrt hatte und ihnen auch kein Schlüssel zu seinem Privat-Pkw gegeben.

Auch in Anbetracht der langen Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers fanden sowohl das erstinstanzliche als auch das zweitinstanzlichen Gericht die Kündigung gerechtfertigt. Eine Abmahnung sei nicht erforderlich gewesen. Der Kläger habe gewusst, dass Desinfektionsmittel in dieser Zeit auch für die Arbeitgeberin schwer zu bekommen war. Er habe somit auch provoziert, dass seine Kollegin gar nichts davon bekommen könnten.

Somit ging die Interessenabwägung zu Ungunsten des Arbeitnehmers aus.

Bewertung / Tipps:
Die Entscheidung ist aktuell in Zeiten der der Corona-Pandemie wohl insbesondere wegen des gestohlenen Gegenstands interessant. Juristisch dürfte nichts Neues darin stecken.
Grundsätzlich werden Diebstähle in der Rechtsprechung als Kündigungsgrund angesehen, und zwar auch, wenn es sich um geringwertige Gegenstände handelt. Bei dieser Rechtsprechung ist das Bundesarbeitsgericht auch bis heute geblieben. In der „Emmily“-Entscheidung (Urteil vom 10.06.2010, Aktenzeichen 2 AZR 541/09) kam als neuer Bewertungsmaßstab, der bei der vorzunehmenden Interessenabwägung eine Rolle spielen soll, das sogenannte „Vertrauenskapital“, das durch einen lange Betriebszugehörigkeit erworben wird, hinzu. Dies soll nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts durch die Entwendung eines geringwertigen Gegenstands nicht vollständig aufgezehrt werden.
Trotzdem hat es in einer Entscheidung vom 21.06.2012 (2 AZR 153/11) die Kündigung eines Arbeitnehmers bestätigt, der 2 Packungen Zigaretten entwendet hatte. Auch nach 18-jähriger Betriebszugehörigkeit könne das Vertrauenskapital aufgezehrt sein, wenn es sich um ein heimliches Verhalten gehandelt habe.
In den unteren Instanzen kam es demgegenüber öfters zu für die Arbeitnehmer günstigeren Entscheidungen. Zum Beispiel im Jahr des „Emmily“-Urteils des Bundesarbeitsgerichts das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 16.09.2010, Aktenzeichen 2 Sa 509/10), dass nach einer Betriebszugehörigkeit von 40 Jahren eine Betrugshandlung, die zu einem Schaden von 166 € geführt hatte, nicht als ausreichend ansah. Ein Mensa-Mitarbeiter durfte 2 Frikadellen gegen den erklärten Willen seines Vorgesetzten essen (Kündigung also unwirksam, Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 04.11.2020, Aktenzeichen 8 Sa 711/10). Weitere Fälle aus neuerer Zeit sind die Entwendung von 2 Haarspangen im Wert von insgesamt 1,99 € durch eine Verkäuferin, um die dienstlich vorgeschriebene Kopfbedeckung zu befestigen (Kündigung unwirksam, Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 16.12.2008, Aktenzeichen 9 Ta 474/08); die Weitergabe von 84 Dosen Lebensmitteln mit abgelaufenem Verfalldatum an die Heilsarmee (Kündigung unwirksam, Arbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 05.04.1995, Aktenzeichen 6 Ca 60/95); der Verzehr von 8 belegten Brötchenhälften durch eine Krankenschwester zusammen mit ihren Kolleginnen nach 23-jähriger Betriebszugehörigkeit (Kündigung wegen der langen Betriebszugehörigkeit unwirksam, Arbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 01.07.2015, Aktenzeichen 27 Ca 87/15).
Es gibt eine Fülle weiterer Entscheidungen zu Diebstählen. Zu Recht weist Prof. Dr. Däubler darauf hin, dass auffällt, dass durch die Kündigungen wegen geringfügiger Eigentumsdelikte ausschließlich Beschäftigte mit längeren Betriebszugehörigkeiten und Standardtätigkeiten betroffen sind. Typische „Leistungsträger“, so Däubler, sind nach dem veröffentlichen Fallmaterial nicht unter den „Opfern“. „Bei solchen Vorwürfen stellt sich immer die Frage, ob das „erschütterte Vertrauen“ ein vorgeschobenes Argument ist“. Der wirkliche Grund der Kündigung könnte auch sein, dass Beschäftigte weniger leistungsfähig als andere oder unbeliebt geworden sind. Wenn es konkret Anhaltspunkte dafür gibt, spricht einiges dafür, dass die Kündigung rechtswidrig ist. Anhaltspunkte können beispielsweise „Großzügigkeiten“ gegenüber anderen sein. (Däubler in Wolfgang Däubler, Olaf Deinert, Bertram Zwanziger, Kündigungsschutzrecht – Kommentar für die Praxis, Stand 2020, § 626 BGB, Rn. 118)
Dort, wo Unsicherheiten über die Grenzen des Erlaubten bestehen, etwa, weil Vorgesetzte die Mitnahme von Gegenständen erlaubt oder geduldet haben, muss vor der Kündigung eine Abmahnung ausgesprochen werden (Däubler, a.a.O., Rn.115).
(eingestellt am 01.02.2021)