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Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 8. September 2021, Aktenzeichen 5 AZR 149/21
Die Klägerin war seit August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Sie kündigte das Arbeitsverhältnis und legte gleichzeitig mit dem Kündigungsschreiben eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung umfasste die restliche Dauer des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende der Kündigungsfrist.
Die Arbeitgeberin und Beklagte leistete daraufhin keine Entgeltfortzahlung. Diese hat die Klägerin gerichtlich geltend gemacht. Die Vorinstanzen haben ihr Recht gegeben, das Bundesarbeitsgericht hat die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben.
Aufgrund des zeitlichen Geschehensablaufs sah das Bundesarbeitsgericht den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert an. Die Arbeitnehmerin hätte, so das Bundesarbeitsgericht, nunmehr die Richtigkeit der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darlegen und beweisen müssen. Das hätte sie, so das Bundesarbeitsgericht, insbesondere durch Befreiung ihres behandelnden Arztes von der ärztlichen Schweigepflicht versuchen können. Die Klägerin sei ihrer Darlegungspflicht trotz Hinweis des Gerichts nicht nachgekommen.

Erläuterung:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kommt ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein hoher Beweiswert zu. Es wird vom „Beweis des ersten Anscheins“ gesprochen.
Der Arbeitgeber muss bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit aber nicht die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers beweisen, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Es reicht aus, wenn er einen Sachverhalt vorträgt, der „ernsthafte Zweifel“ an der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtfertigt. Dann allerdings ist der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert.
Der Arbeitnehmer hat danach die volle Beweislast für seine Arbeitsunfähigkeit. Den Beweis kann er erbringen, indem er seinen behandelnden Arzt von der ärztlichen Schweigepflicht entbindet und vorträgt und unter Beweis stellt, von welchen Arbeitsbedingungen der Arzt ausgegangen ist und warum infolge der Erkrankung die arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden können.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin das nicht gemacht – warum auch immer.

Beispiele
für Fälle, in denen von einer Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung auszugehen sein wird:
Arbeit bei einem Konkurrenzunternehmen während der Arbeitsunfähigkeit; Erteilung einer AU-Bescheinigung ohne Untersuchung, oder allein aufgrund einer telefonischen Rücksprache; vorherige Ankündigung einer Erkrankung durch den Arbeitnehmer; Durchführung von Arbeiten im häuslichen Bereich oder im Nebenerwerb, die mit der Erkrankung nicht zu vereinbaren sind; rückwirkende Datierung einer AU-Bescheinigung; wiederholte gleichzeitige Erkrankung von Ehegatten nach Urlaubsende; sportliche Betätigungen, die im Gegensatz zur vorgegebenen Erkrankung stehen, zum Beispiel Bunjeejumping bei jemandem, der an einer Rückgraterkrankung litt.

Tipp:
Nicht erschüttert hingegen wird die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung allein durch Aufenthalt des Arbeitnehmers außerhalb von seiner Wohnung, durch Besorgungsausgänge oder durch Spaziergänge.
Je nach Art der Erkrankung können auch Urlaubsreisen oder der Besuch von Vergnügungsveranstaltungen sowie leichte sportliche Betätigungen nicht zu beanstanden sein – weil solche Aktivitäten auch die Genesung fördern können. Falls Sie so etwas beabsichtigen, rate ich Ihnen, vorsichtshalber vorab mit Ihrem Arzt zu sprechen, ob der Genesungserfolg durch solche Aktivitäten gefährdet ist. Sollte es zu Zweifeln an der AU-Bescheinigung kommen, können Sie diesen dann durch konkreten Vortrag begegnen.
(eingestellt am 01.10.2021)