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Krankheitsbedingte Kündigung: Hohe freiwillige Zahlungen einer Arbeitgeberin während der Krankheitszeiten einer Arbeitnehmerin können eine krankheitsbedingte Kündigung nicht begründen. Sie stellen keine für die Kündigung relevante wirtschaftliche Belastung der Arbeitgeberin dar. Das gilt auch für Jahre, die die Arbeitnehmerin durchgehend erkrankt gewesen ist. (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.07.2021, Aktenzeichen 2 AZR 125/21)
Die Arbeitgeberin hatte das Arbeitsverhältnis wegen Erkrankung der Arbeitnehmerin mit Schreiben vom 17.07.2018 gekündigt. Die Arbeitnehmerin hatte Kündigungsschutzklage erhoben. Sie hatte mit der Kündigungsschutzklage in allen Instanzen Erfolg.

Die Klägerin war in den Jahren 2012 bis 2014 an durchschnittlich 44 Arbeitstagen pro Jahr erkrankt. Die Arbeitgeberin leistete für in etwa so viele Tage Entgeltfortzahlung.
Zwischen 2015 und Mitte 2018 war sie mit einer kurzen Unterbrechung fast durchgehend erkrankt.

Die Arbeitgeberin hatte verhältnismäßig wenig Entgeltfortzahlung, aber hohe andere Leistungen als die Entgeltfortzahlung an die Arbeitnehmerin zusätzlich erbracht:
zwischen 2012 und 2018 rund 31.000 €. Diese Leistungen setzten sich zusammen aus Krankengeldzuschüssen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Tankdeputat, Jubiläumsaktien sowie Bonuszahlungen.

Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu krankheitsbedingten Kündigungen prüfte das Gericht in 3 Stufen. Zunächst muss sich aus objektiv feststellbaren Tatsachen eine negative Gesundheitsprognose ergeben. Es muss die berechtigte Besorgnis bestehen, dass es auch in Zukunft zu weiteren Erkrankungszeiten wie in dem bisherigen Umfang kommt (1. Stufe der Prüfung). Die für die Zukunft zu befürchtenden Erkrankungszeiten müssen eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen hervorrufen (2. Stufe der Prüfung). In einer abschließenden Interessenabwägung ist zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen von der Arbeitgeberin billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (3. Stufe der Prüfung).

Das Bundesarbeitsgericht ging mit dem Landesarbeitsgericht davon aus, dass eine negative Gesundheitsprognose zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bestanden hatte. Somit hatte die Kündigung die 1. Stufe der Prüfung passiert.

Sie scheiterte aber in der 2. Stufe. Denn die Arbeitgeberin hatte in den Vorinstanzen keinerlei Betriebsablaufstörungen vorgetragen, die sich aus der Erkrankung der Arbeitnehmerin ergeben hätten.
So prüfte das Gericht noch die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeberin. Auch hier sahen alle Instanzen keine erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitgeberin.

Das mag angesichts der oben vorgetragenen Summen überraschen. Wie ist das Gericht zu dieser Auffassung gekommen?
Allein die Entgeltfortzahlungskosten der Arbeitgeberin sind nach Auffassung des Gerichts der Ausdruck dafür, dass der gleichwertige Austausch zwischen Leistung (Arbeit) und Gegenleistung (Vergütung) gestört ist. Dies Verhältnis muss so tiefgreifend gestört sein, dass es der Arbeitgeberin unzumutbar ist, an dem Arbeitsverhältnis zukünftig festzuhalten.
Nur der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall können Arbeitgeberinnen sich nicht entziehen (§ 12 Entgeltfortzahlungsgesetz).
Bei den Leistungen in Höhe von ca. 31.000 €, die die Arbeitnehmerin erhalten hatte, hatte es sich nicht um Entgeltfortzahlung gehandelt, sondern um gesetzlich nicht erzwungene und somit freiwillige Leistungen der Arbeitgeberin. Sie wurden nicht für erbrachte Arbeit von der Arbeitgeberin gezahlt, sondern freiwillig unabhängig von einer Arbeitsleistung. Die Arbeitgeberin hatte sich zu diesen Leistungen aufgrund von Betriebs- und Gesamtbetriebsvereinbarungen bereit erklärt, teilweise sie auch ohne weitere Vereinbarungen erbracht. Das Gesetz legt Arbeitgeberinnen diesen Zwang nicht auf.
Solche freiwilligen Leistungen der Arbeitgeberseite können nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts eine unangemessene wirtschaftliche Belastung der Arbeitgeberin infolge der Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin nicht begründen.

Das Gericht hat unter Bezugnahme auf seine früheren Entscheidungen in diesem Urteil nochmals darauf hingewiesen, dass „vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls“ für die Beurteilung der wirtschaftlichen Belastungen der Arbeitgeberin grundsätzlich nur ein Referenzzeitraum von 3 Jahren entscheidend ist. Besteht ein Betriebsrat, so sind für dessen Mitbestimmung zur Kündigung die letzten 3 Jahre vor Einleitung des Anhörungsverfahrens maßgeblich.

Die tarifliche Einmalzahlung des Jahres 2015 war daher für die Beurteilung der Ausgewogenheit zwischen Leistung und Gegenleistung nicht mehr heranzuziehen, ebenso nicht die Entgeltfortzahlungskosten der Jahre 2012-2014. Das Bundesarbeitsgericht hat nur den Zeitraum von Mitte 2015 bis Mitte 2018 zu betrachten gehabt.

Bewertung:
Es ist erfreulich, dass das Bundesarbeitsgericht hinsichtlich der freiwilligen Zahlungen der Arbeitgeberin rechtliche Klarheit geschaffen hat.
(Eingestellt am 08.12.2021)