Tipps und Urteile 2020

Muss das Gericht dem Rechtsanwalt helfende Hinweise geben, wenn er Fehler gemacht hat? Wann ist ein Anwaltsschriftsatz ordnungsgemäß signiert? (Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.09.2020, Aktenzeichen 5 AZB 23/20)
Hier einmal eine Gerichtsentscheidung aus dem Verfahrensrecht. Für einige Leser meiner Homepage ist vielleicht auch einmal ein Blick in das „Getriebe der Justiz“ interessant. 

Der Gesetzgeber strebt die papierlose elektronische Kommunikation an. Die Bundesrechtsanwaltskammer wurde deshalb verpflichtet, eine entsprechende Infrastruktur aufzubauen. So wurde das „besondere elektronische Anwaltspostfach“ (beA) geschaffen. Ab dem 01.01.2018 sind die Rechtsanwälte zur sogenannten „passiven Nutzung“ verpflichtet. D. h., sie müssen die notwendigen technischen Einrichtungen vorhalten und Mitteilungen über das beA zur Kenntnis nehmen. Je nach Bundesland tritt zwischen 2020 und dem 01.01.2022 auch die aktive Nutzungspflicht in Kraft. Das bedeutet, dass Rechtsanwälte verpflichtet sind, für die Kommunikation mit den Gerichten ausschließlich das beA zu nutzen. Schriftsätze werden also nicht mehr als Papier, sondern als elektronische Dateien an die Gerichte übermittelt. Viele Gerichte kommunizieren ebenfalls auf diesem Weg, einige befinden sich noch in einer Übergangsphase. Viele Anwälte nutzen das beA bereits vollständig passiv als auch aktiv. Neben den technischen Schwierigkeiten, die die Einführung neuer Techniken naturgemäß immer verursacht, kommt es aber auch zu fachlichen Problemen:

Nach den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften muss ein Schriftsatz eines Rechtsanwalts immer mit der einfachen Signatur des Rechtsanwalts enden und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Sinn dieser Vorschriften ist, dass wie durch eine Unterschrift sichergestellt sein soll, dass „die von dem sicheren Übermittlungsweg ausgewiesene Person mit der Person identisch ist, welche mit der wiedergegebenen Unterschrift die inhaltliche Verantwortung für das elektronische Dokument übernimmt.“ (Bundesarbeitsgericht in der hier erörterten Entscheidung, juris Rn. 16)

Im hier strittigen Verfahren hatte der Rechtsanwalt seinen Schriftsatz, mit dem er Berufung eingelegt hatte, zwar als elektronisches Dokument über den sicheren Übermittlungsweg des beA an das Landesarbeitsgericht geschickt. Aber unter dem Dokument hieß es lediglich

„Rechtsanwalt“.

Der Name des Verfassers des Dokuments wurde nicht genannt. Richtigerweise hätte es, wie sich aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ergibt, mindestens heißen müssen:

„Mustermann“
 
(Ich mache es übrigens immer so:

„Rechtsanwalt
Ralf-Carsten Bonkowski“

Ich schreibe also nicht nur meinen Nachnamen, sondern auch die Vornamen und das Wort „Rechtsanwalt“ zusätzlich.)

Das Bundesarbeitsgericht hat ausgeführt, dass damit die Berufung unzulässig war. Es ging von einem verschuldeten Rechtsirrtum des Rechtsanwalts aus.
„Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich anzuwenden sind. (…)“ Bundesarbeitsgericht, juris Rn. 23)

Trotzdem gewährte es Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das ergibt sich aus folgendem:
der Anwalt hatte den fehlerhaften Berufungsschriftsatz am 20.03.2019, einen Tag vor Ablauf der Berufungsfrist, die am 21.03.2019 ablief, über das Bea verschickt. Der Vorsitzende Richter des Landesarbeitsgerichts hatte mit Verfügung vom 21.03.2019, von ihm um 14:02 Uhr elektronisch signiert, den Parteien den Eingang der Berufung am 20.03.2019 mitgeteilt und auf die Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Erst mit Verfügung vom 18.02.2020 hatte das Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen, dass es Bedenken an der formgerechten Einlegung der Berufung habe.

Das Bundesarbeitsgericht sah in der Verfahrensweise des Gerichts einen Verstoß gegen dessen prozessuale Fürsorgepflicht und damit gegen das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren. Der sachbearbeitenden Richter hätte nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts den offensichtlichen Fehler des Rechtsanwalts sofort erkennen können. Er wäre verpflichtet gewesen, den Rechtsanwalt durch Telefonanruf oder Telefax auf diesen Fehler hinzuweisen.
„Aus dem „allgemeinen Prozessgrundrecht“ auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) folgt die Verpflichtung des Richters zu Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten prozessualen Situation. Es ist ihm hiernach untersagt, aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die Betroffenen Prozessparteien abzuleiten.“

Der Richter, so das Bundesarbeitsgericht, dürfe nicht „sehenden Auges“ die Berufungsfrist verstreichen lassen, um dann die Berufung wegen fehlender Unterschrift oder Signatur als unzulässig zu verwerfen. 

Bewertung:
„Glück gehabt“, kann man hier dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten erklären. Hier hat noch die letzte Notsicherung eingerastet, die sich aus dem Grundgesetz ergibt.
Die kurze Reaktionszeit, die das Bundesarbeitsgericht dem Richter hier abverlangt hat, ergibt sich nach meiner Auffassung vorrangig daraus, dass der anwaltliche Fehler so offensichtlich war. Anders dürfte es bei einem versteckteren Fehler aussehen. Man kann sich als Anwalt und als Mandant also nicht darauf verlassen, dass immer eine so kurzfristige Reaktionspflicht des Gerichts besteht. Da ist es empfehlenswert, möglichst früh zu klären, ob Berufung eingelegt werden soll und diese dann deutlich vor Ablauf der Berufungsfrist einzulegen.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts halte ich für richtig und begrüßenswert.

Bisher kann ich beobachten, dass viele Rechtsanwaltskollegen das beA ausschließlich passiv nutzen. Ich sehe für den Workflow meines Büros durchaus einen Vorteil in der aktiven Nutzung, die ich von Beginn an praktiziert habe. Die Erstellung von Fotokopien der Anlagen und der Schriftsätze fällt weg. Ebenso das „Eintüten“ von Briefen und der Gang zum Briefkasten oder zur Post.
Ein Nachteil war, dass es zu Beginn schon erhebliche technische Schwierigkeiten gab, die im Einzelfall auch ganz schön Zeit gefressen haben.
Aus wiederholten Rundschreiben der Rechtsanwaltskammer habe ich erfahren, dass es immer noch Kollegen gibt, die ihr beA noch gar nicht für die passive Nutzung eingerichtet haben. Das ist natürlich in höchstem Maße schadenträchtig und unverantwortlich.
(eingestellt am 01.11.2020)