Tipps und Urteile 2020

Kameraüberwachung zur Sicherstellung eines Sicherheitsabstands wegen Ansteckungsgefahr durch den COVID-19- Virus und Betriebsratsrechte (Arbeitsgericht Wesel, Beschluss vom 24.04.2020, Aktenzeichen 2 BVGa 4/20)
In einem Amazon-Betrieb gab es bereits seit 2013 eine Betriebsvereinbarung über die Installation und Nutzung von Überwachungskameras. Nach der Betriebsvereinbarung war ihr Zweck unter anderem der Schutz der Mitarbeiter. Die Daten aus den Kameras durften der Betriebsvereinbarung zufolge nur auf lokalen Netzwerkrecordern gespeichert werden. Der Kreis der Personen, die die Daten aus der Kameraüberwachung auswerten dürfen sollten, war in der Betriebsvereinbarung bestimmt. Außerdem war die Weitergabe des Bildmaterials an Dritte untersagt (mit Ausnahme von Strafverfolgungs- und Ermittlungsbehörden).

Nach Bekanntwerden der Corona-Pandemie übermittelte die Arbeitgeberin Bilddateien auf Datenserver in Irland, wo sie mit Anonymisierungssoftware ausgewertet und anonymisiert wurden.
Dabei ging es der Arbeitgeberin darum, zu ermitteln, an welchen Stellen ein Sicherheitsabstand von 2 m zwischen 2 oder mehr Personen nicht eingehalten wurde.
Standbilder von Situationen mit 2 oder mehr Mitarbeitern wurden in Irland zunächst so verpixelt, dass die Mitarbeiter nicht zu erkennen waren und dann an Mitarbeiter des dortigen sogenannten „Amazon Vision Operations Center“ weitergeleitet. Diese ermittelten, ob der Sicherheitsabstand eingehalten worden war. Ein schriftlicher Bericht wurde von den Mitarbeitern dieses Center an den Standortleiter und den sogenannten „Loss Prevention Verantwortlichen“ täglich („zurück“) weitergeleitet. Standortleiter und Loss Prevention Verantwortlicher bekamen nur Einsicht in die Standbilder, wenn  nicht schon aus dem Bericht deutlich wurde, welche Verbesserungsmaßnahmen notwendig waren. Vor der Übermittlung an diese Personen wurden die verpixelten Stellen komplett geschwärzt.

Der Betriebsrat beantragte eine einstweilige Verfügung mit dem Ziel der Unterlassung von Aufnahmen, Unterlassung von deren Speicherung und Verarbeitung und Übermittlung an Dritte.
Das Arbeitsgericht erließ eine einstweilige Verfügung, mit der es der Arbeitgeberin untersagt, Kameraaufnahmen zu verarbeiten und an Dritte zum Zweck der Abstandsmessung oder Abstandsüberwachung von Arbeitnehmern zu übermitteln.

Das Arbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die bestehende Betriebsvereinbarung die Erstellung von Kameraaufnahmen und deren Speicherung bereits erlaubte. Deshalb hat es dem Antrag des Betriebsrats hinsichtlich Erstellung und Speicherung von Aufnahmen nicht entsprochen.
Verarbeitung der Aufnahmen und Übermittlung an Dritte hat es aber untersagt.

Das Arbeitsgericht hat einen Verstoß der Arbeitgeberin gegen § 87 Abs. 1 Satz 1 Nummer 6 und Nummer 7 Betriebsverfassungsgesetz gesehen.

Zu § 87 Abs. 1 Nummer 6 Betriebsverfassungsgesetz hat es ausgeführt, dass diese Regelung nur zugunsten des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats greift, wenn die erhobenen Leistungsdaten einzelner Arbeitnehmer ihnen individuell zugeordnet werden können.
Die notwendige Anonymisierung der Daten sei im vorliegenden Fall nur garantiert, wenn die Verpixelung nicht umkehrbar sei. Das hatte die Arbeitgeberin zwar behauptet, aber nicht unter Beweis gestellt. Außerdem konnte die Arbeitgeberin nicht ausräumen, dass die Daten erst nach der Übermittlung auf den Datenserver in Irland anonymisiert wurden.
Damit aber, so das Arbeitsgericht, sei eine Zuordnung der Leistungsdaten einzelner Arbeitnehmer gerade nicht ausgeschlossen.
Diese nicht anonymisierten Daten hat die Arbeitgeberin auf Servern im Ausland gespeichert. Darin sah das Arbeitsgericht zusätzlich einen Verstoß gegen die bestehende Betriebsvereinbarung, die jegliche Übermittlung an Dritte ausschloss. 

Außerdem sah das Arbeitsgericht § 87 Abs. 1 Nummer 7 Betriebsverfassungsgesetz als verletzt. Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung im Sinne von § 5 Arbeitsschutzgesetz. Die Arbeitgeberin hatte sich hier damit verteidigt, dass es sich bei der Auswertung der Standbilder um eine der Gefährdungsbeurteilung vorgelagerte Maßnahme, nicht aber die Gefährdungsbeurteilung selbst handele. Diesem Argument folgte das Gericht nicht. Es ginge hier, so das Arbeitsgericht, um die Feststellung, ob überhaupt Gefahren bestehen. Genau das sei jedoch der Zweck der Gefährdungsbeurteilung.

Das Arbeitsgericht hat sich ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob hier ein Notfall im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung vorgelegen habe, der es der Arbeitgeberin erlaube, Anordnungen zu treffen, ohne die Mitbestimmung zu beachten. Bei extremen Notfällen, die es dem Arbeitgeber nicht mehr möglich machen, die Mitbestimmungsrechte zu beachten, darf nach der Rechtsprechung der Arbeitgeber so vorgehen, wenn er die Beteiligung des Betriebsrats unverzüglich nach seiner Maßnahme nachholt.
Einen solchen Extremfall hat das Arbeitsgericht hier nicht gesehen. Zwar stelle die Corona-Pandemie eine gravierende Bedrohung für die Gesundheit der Betriebsangehörigen und Dritten und das wirtschaftliche Wohlergehen der Betriebe des Arbeitgebers dar. Ein Notfall setze aber eine akute Gefahr voraus. Allein die kontinuierliche Ausbreitung des Virus sei keine akute Gefahr für den Betrieb und damit kein extremer Notfall. 

Das Arbeitsgericht erörterte auch ausführlich, ob ein ausreichender Grund für den Erlass einer einstweiligen Verfügung (Verfügungsgrund im Sinne von §§ 935, 940 ZPO) vorliege. Es kommt entscheidend darauf an, ob die glaubhaft gemachten Gesamtumstände es bei Abwägung der Interessen von Arbeitgeberin und Arbeitnehmervertretung zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich machen, eine sofortige Regelung zu treffen. Die Arbeitgeberin sei in dem Dilemma, einerseits den Gesundheitsschutz im Betrieb zu gewährleisten, andererseits eine Einigung mit dem Betriebsrat herbeiführen zu müssen.

Bei einer auf Dauer angelegten Maßnahme wie der vorliegenden kann das in der Vergangenheit nicht ausgeübte Beteiligungsrecht nicht mehr nachgeholt werden. Es komme, so das Arbeitsgericht, darauf aber nicht an. Entscheidend sei, ob für die Zeit bis zum Inkrafttreten einer unter Beachtung der Mitbestimmungsrechte getroffenen Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeberin der notwendige Schutz der Arbeitnehmer unwiederbringlich vereitelt werde.
Je klarer mitbestimmungswidrig ein Verhalten der Arbeitgeberin sei, umso eher bestehe auch ein Verfügungsgrund. Umgekehrt müsse bei unklarer Sach- und Rechtslage von erhöhten Anforderungen an den Verfügungsgrund ausgegangen werden.
Im vorliegenden Fall jedenfalls sah das Arbeitsgericht vor dem Hintergrund der Übermittlung von nicht anonymisierten Kameradaten von Arbeitnehmern ins Ausland, welche die bestehende Betriebsvereinbarung ausdrücklich verbot, einen Verfügungsgrund als gegeben an und erließ eine einstweilige Verfügung.

Bewertung:
Die Entscheidung wägt sorgfältig ab. Das Gericht hat zu Recht eine Verletzung von § 87 Abs. 1 Nummer 6 und Nummer 7 Betriebsverfassungsgesetz gesehen und die einstweilige Verfügung erlassen.

Die Beurteilung der Verletzung von § 87 Abs. 1 Nummer 6 Betriebsverfassungsgesetz hätte auch anders ausfallen können, nämlich, wenn die Arbeitgeberin glaubhaft hätte machen können, dass sie bereits im Betrieb die Kameradaten unumkehrbar anonymisierte und in eine nicht individualisierbare Form brachte und erst dann ins Ausland übermittelte. Das Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nummer 6 Betriebsverfassungsgesetz besteht nur, wenn die Möglichkeit der Verbindung der Daten mit einzelnen Arbeitnehmern besteht. Ohne eine solche Möglichkeit können sie nicht zur Kontrolle von Verhalten oder Leistung einzelner Arbeitnehmer genutzt werden.

Einen extremen Notfall, der zur Aufhebung der Mitbestimmungsrechte hätte führen können, hat das Gericht hier zu Recht nicht angenommen. Wäre es im Betrieb bereits zu Infektionen von Arbeitnehmern bzw. Geschäftspartnern gekommen, könnte diese Frage anders zu beurteilen sein.
(eingestellt am 01.08.2020)