Tipps und Urteile 2020

Bezahlung von Überstunden: Wenn ein Arbeitnehmer detaillierte Aufzeichnungen seiner Mehrarbeitsstunden vorlegt, gelten diese im Arbeitsgerichtsprozess von der Arbeitgeberseite als zugestanden. Es sei denn, der Arbeitgeber hat ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit des Arbeitnehmers eingerichtet. (Arbeitsgericht Emden, Urteil vom 20.02.2020, Aktenzeichen 2 Ca 94/19)
Das lässt sich der oben benannten Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden entnehmen.

Der Arbeitnehmer hatte genau Aufzeichnungen über seine Arbeitszeit geführt. Er machte gestützt auf diese Aufzeichnungen für den Zeitraum von September bis November 2018 die Vergütung von 12,05 Stunden geltend. Er selbst hatte Aufzeichnungen über 195,05 Stunden geführt. Der Arbeitgeber hatte nur 183 Stunden angesetzt und vergütet. Zur Verteidigung belief der Arbeitgeber sich auf ein von ihm geführtes Bautagebuch. Dies ließ das Arbeitsgericht nicht als ausreichend detaillierten Vortrag gelten. Das Bautagebuch, das der Arbeitgeber geführt hatte, stellte nach Auffassung des Arbeitsgerichts von vornherein kein System zur tatsächlichen Erfassung der von dem Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit dar, sondern es diente der Berechnung von Grundleistungen nach der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure.

Hintergrund: Das Arbeitsgericht Emden berief sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019, Aktenzeichen C-55/18 (CCOO). Darin hat der EuGH festgestellt, dass sich aus der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) ergibt, dass Regelungen von Mitgliedstaaten, die die Arbeitgeberin nicht verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, der Arbeitszeitrichtlinie und der Grundrechtecharta nicht entsprechen.

Nach dem Urteil des EuGH muss ein Arbeitszeiterfassungssystem „objektiv“, „verlässlich“ und „zugänglich“ ausgestaltet werden. Dazu führt das Arbeitsgericht Emden aus: „Das Attribut „objektiv“ dürfte dahingehend zu verstehen sein, dass die Erfassung und Aufzeichnung in einer Art und Weise erfolgen muss, die es dem Arbeitnehmer möglich macht, die geleistete Arbeitszeit mithilfe der Aufzeichnungen objektiv nachzuweisen (…). Das Merkmal „verlässlich“ ist wohl dahingehend zu verstehen, dass die Dokumentation der Arbeitszeit zuverlässig geschieht und etwaige Manipulationen ausgeschlossen sind (…). Schließlich müssten die Aufzeichnungen dem Arbeitnehmer auch „zugänglich“ sein; er muss die Möglichkeit haben, die Dokumente einzusehen und im Bedarfsfalle im Prozess als Beweismittel nutzen können (…).“ (juris Rn.32)

Bewertung:
Die typische sehr häufige Situation im Überstundenprozess vor dem Urteil des EuGH war: Der Arbeitnehmer macht die Vergütung von Überstunden geltend. Der Arbeitgeber bestreitet, dass der Arbeitnehmer Überstunden geleistet hat. Jedenfalls hat er – der Arbeitgeber – diese nicht angeordnet und daher auch nichts davon gewusst, dass der Arbeitnehmer Überstunden geleistet hat.
Außerdem bestreitet der Arbeitgeber, dass der Arbeitnehmer die Überstunden in der von ihm behaupteten Anzahl geleistet hat. Bisher mussten die Arbeitnehmer den Umstand der Anordnung der Überstunden und auch die Anzahl der Überstunden – minutengenau mit Datum und Uhrzeit – vortragen und auch beweisen. An dieser Stelle (Beweis) ist das Einklagen vieler Überstunden gescheitert. Das ist mit einer der Gründe, warum laut Presseberichten und wissenschaftlichen Erhebungen in Deutschland in 2018 ca 1 Millarde von Überstunden (lt. Online-Portal Statista) nicht bezahlt wurden.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Emden in der praktischen Auswertung und Anwendung des Urteils des EuGH verlagert die Waagschale deutlich zugunsten der Arbeitnehmerseite. Der entscheidende Fortschritt in dem Urteil des Arbeitsgerichts liegt darin, dass es festgestellt hat, dass sich aus Art. 31 Abs. 2 GRC unmittelbar die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeiten durch den Arbeitgeber ergibt. Eine Umsetzung des Urteils des EuGH in nationales Recht ist dem Urteil des Arbeitsgerichts Emden zufolge nicht notwendig. Damit stellte das Arbeitsgericht Emden sich auf die Seite zunehmender und gewichtiger Stimmen in der Literatur. Autoren von Seiten der Arbeitgeber behaupten nämlich im Gegensatz dazu, das Urteil des EuGH habe derzeit noch keinerlei Bedeutung in Deutschland, weil der deutsche Gesetzgeber die sich aus der Arbeitszeitrichtlinie und der Grundrechtecharta ergebenden Verpflichtungen der Einzelstaaten, für eine EU- richtlinienkonforme Erfassung der Arbeitszeit zu sorgen, noch nicht in deutsches Recht umgesetzt habe.

Tipp:
Wenn Ihr Arbeitgeber keine Aufzeichnungen Ihrer Arbeitszeit in dem oben angesprochenen Sinne führen sollte, sollten Sie selbst möglichst detaillierte Aufzeichnungen anfertigen. Im Streitfall erhöhen Sie mit eigenen Aufzeichnungen Ihre Chancen, Überstunden vor Gericht durchsetzen zu können, ganz erheblich.
(eingestellt am 01.06.2020)