Tipps und Urteile 2020

Kann eine Einzelhandelsfiliale durch einstweilige Verfügung geschlossen werden, wenn keine Einigung mit dem Betriebsrat über Gesundheitsschutzmaßnahmen getroffen ist? (Arbeitsgericht Hamm, Beschluss vom 04.05.2020, Aktenzeichen 2 BVGa 2/20)
Ein Betriebsrat eines Einzelhandelsunternehmens hatte wegen der COVID-19 Pandemie mit der Geschäftsführung am 09.04.2020 eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die vorsah, dass das Geschäft bis zum 31.05.2020 geschlossen bleiben sollte.
Die Geschäftsführung teilte dem Betriebsrat am 22.04.2020 mit, dass die Filiale ab dem 28.04.2020 wieder geöffnet werde. Die dortigen Mitarbeiter sollten mit 20 % bis 80 % ihrer individuellen Arbeitszeit wieder eingesetzt werden.

Der Betriebsrat beantragte eine einstweilige Verfügung mit dem Ziel, die Filiale wieder zu schließen, bis eine Einigung mit dem Betriebsrat über den einzuhaltenden Arbeitsschutzstandard eingehalten war.
Außerdem beantragte der Betriebsrat, der Arbeitgeberin zu untersagen, Arbeitnehmer ohne Zustimmung des Betriebsrats zu beschäftigen sowie den Betrieb insgesamt bis zu einer Einigung zu schließen.

Das Arbeitsgericht hat der Arbeitgeberin verboten, bis zum 31.05.2020 und auch darüber hinaus Arbeitnehmer zu beschäftigen.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts begründet sich aber aus arbeitszeitrechtlich / kollektivrechtlichen Gründen, nämlich § 87 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) in Verbindung mit der abgeschlossenen Betriebsvereinbarung, nicht aus dem Aspekt der unterlassenen Mitbestimmung des Betriebsrats bei dem Gesundheitsschutz gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG:
Zum einen war mit dem Betriebsrat vereinbart, dass der Betrieb bis zum 31.05.2020 geschlossen bleiben sollte. Diese Betriebsvereinbarung musste die Arbeitgeberin einhalten. Sie durften nicht Arbeitnehmer einsetzen, ohne erneut mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Nach dem 31.05.2020 wirken § 87 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 BetrVG: der Arbeitgeber darf Arbeitnehmern Arbeitszeiten nur nach vorheriger Zustimmung des Betriebsrats zuweisen.

Der Betriebsrat hatte hier aber auch mit § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG argumentiert. Darauf gestützt hatte er eine komplette Schließung des Betriebes beantragt, bis eine Betriebsvereinbarung zur Gefährdungsbeurteilung nach neuem Arbeitsschutzstandard getroffen worden ist. Der Betriebsrat hatte sich auf das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebene und im Internet veröffentlichte Papier „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“ berufen. Darin werden verschiedene betriebliche Schutzmaßnahmen beschrieben und begründet.
Das Arbeitsgericht hat dies Papier als „Handlungsempfehlung“ rechtlich eingeordnet, nicht jedoch als gesetzliche Vorschrift im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Aber auch wenn es sich bei dem Papier um eine Vorschrift handeln würde, die ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG auslösen würde, stünde dem Betriebsrat kein Anspruch auf Verbot des Einsatzes von Mitarbeitern bis zum Abschluss einer Betriebs- oder sonstigen Vereinbarung zum Gesundheitsschutz zu. Das sehe § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht vor. Der Betriebsrat könne die Einigungsstelle anrufen, um die Durchsetzung der neuen Arbeitsschutzstandards im Betrieb zu erreichen.

Eine komplette Betriebsschließung hat das Gericht aber nicht angeordnet. Denn der Arbeitgeber könne den Betrieb auch vollständig durch Dritte aufrechterhalten lassen, die nicht dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und nicht dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterliegen würden.

Bewertung:
Die Schließung der gesamten Filiale ist ein sehr weitreichender Schritt. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dies sei aus einer Entscheidung des (französischen) Berufungsgerichts Versailles dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung folgend herzuleiten. In diesem Fall hatte das Gericht der S.A.S France Logistiqu die Betriebstätigkeit mit Ausnahme der Warenannahme, Verpackung und dem Versand von Hygiene- Lebensmittel- und medizinischen Produkten untersagt. Ihr wurde aufgegeben, eine Einigung über den Gesundheitsschutz mit der zuständigen Arbeitnehmervertretung herbeizuführen (Helm / Bundschuh / Wulff, Arbeitsrechtliche Beratungspraxis in Krisenzeiten, Seite 263 mit weiteren Nachweisen).

Aber auch, wenn man so weit nicht mitgehen möchte: dem Arbeitsgericht ist nicht zuzustimmen, soweit es mit der Entscheidung gemeint haben sollte, dem Betriebsrat stehe ausschliesslich der Weg in die Einigungsstelle offen (Falls die Entscheidung des Gerichts so zu verstehen sein sollte. Das ist meines Erachtens nicht vollständig deutlich erkennbar.). Eine einstweilige Verfügung sollte jedenfalls bezüglich einzelner, konkret zu benennender Tätigkeiten, die besonders gesundheitsgefährdend erscheinen, möglich sein.

Hinweis auf Rechte einzelner Arbeitnehmer:
Falls der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Ermittlung von erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes nicht nachkommen sollte und auch der Betriebsrat nicht tätig werden sollte, kann der einzelne Arbeitnehmer gerichtlichen Rechtsschutz durch eine einstweilige Verfügung erreichen, mit der dem Arbeitgeber verboten wird, ihm einzelne, konkret benannte gesundheitsgefährdende Tätigkeiten zu übertragen.
(eingestellt am 15.08.2020)