Tipps und Urteile 2020

Kann ein Aufhebungsvertrag angefochten werden, weil der Arbeitgeber gegen das Gebot des fairen Verhandelns verstoßen hat? (Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 19.05.2020, Aktenzeichen 5 Sa 173/19)
Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern beantwortet diese Frage mit „ja“.
Die Vorgeschichte dieses Urteils ist interessant: der Kläger, von Beruf Diplom-Agraringenieur, der über keine pädagogische Ausbildung verfügte, war ab dem 01.11.2016 bei dem Land Mecklenburg-Vorpommern als Lehrer tätig. Es wurden mehrere befristete Arbeitsverträge abgeschlossen, teilweise mit Sachgrund, teilweise ohne Sachgrund. Am 13.09.2018 kam es zum Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages, der rückwirkend bereits zum 01.08.2018 abgeschlossen wurde. Das Land Mecklenburg-Vorpommern setzte ihn als vollbeschäftigte Lehrkraft an einer Förderschule ein. Es wurde eine Probezeit von 6 Monaten in dem zuletzt abgeschlossenen Vertrag vereinbart, obwohl der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits fast 2 Jahre für das Land Mecklenburg-Vorpommern als Lehrer gearbeitet hatte.

Die Schilderungen der beiden Parteien über die unmittelbare Vorgeschichte des Aufhebungsvertrages gehen extrem auseinander:
Am 25.10.2018 hospitierte die kommissarische Leiterin der Förderschule die 1. Unterrichtsstunde des Klägers. Unstreitig ist, dass die kommissarische Leiterin der Förderschule sich noch im Klassenraum, aber außer Hörweite der Schüler, kurz gegenüber dem Kläger zu ihren Eindrücken erklärt hat.
Was sie gesagt hat, ist unter den Parteien strittig. Unstrittig ist, dass der Kläger über diese Aussage sehr betroffen war, sich bei der Leiterin vom weiteren Unterricht abmeldete und seinen Hausarzt aufsuchte, der seine Arbeitsunfähigkeit zunächst bis zum 31.10.2018 bestätigte. Noch am 25.10.2018 gab der Kläger seine Schlüssel ab und die von ihm benutzten Schulbücher zurück. Es hat ebenfalls an diesem Tag ein Telefonat zwischen dem Justiziar des Schulamtes und dem Kläger stattgefunden. Der Justiziar lud den Kläger zu einem Telefonat für den Folgetag ein.
Der Kläger schilderte die Vorgänge so: die Schulleiterin habe ihm erklärt, es sei beabsichtigt, das Arbeitsverhältnis mit ihm zu beenden. Sie habe ihn auch aufgefordert, seine Schlüssel und seine Arbeitsunterlagen abzugeben. Das habe bei ihm zu einem enormen psychischen Druck geführt, deshalb habe er seinen Arzt aufgesucht. Nach dem Besuch des Arztes habe der Justiziar ihn angerufen und ihn freundlich zu einem Gespräch bei einer Tasse Kaffee am nächsten Tag eingeladen.
Der Justiziar habe gesagt, dass da wohl etwas schief gelaufen sei. Der Kläger sei zunächst erleichtert gewesen und habe geglaubt, dass sich eine Lösung finden lassen. Aber in dem Gespräch habe der Justiziar keine unterstützende Lösung, wie zum Beispiel die Versetzung zu einer anderen Schule oder Betreuung mit anderen Unterrichtsaufgaben angeboten. Vielmehr habe er dem Kläger erklärt, dass das Arbeitsverhältnis in der Probezeit gekündigt werden solle. Einer solchen für ihn nachteiligen Kündigung innerhalb der Probezeit könne er entgehen, wenn er einen Aufhebungsvertrag abschließe. Den Aufhebungsvertrag habe der Justiziar schon fertig auf dem Tisch liegen gehabt. Niemals habe der Kläger um den Abschluss eines Aufhebungsvertrages gebeten. Nach den mehrfachen Befristungen sei er vielmehr froh gewesen, endlich unbefristet eingestellt worden zu sein.
Von Schulleiterin und Justiziar wurde der Sachverhalt so dargestellt:
Die Schulleiterin habe den Kläger nicht aufgefordert, Arbeitsmaterialien und Schlüssel abzugeben. Das habe der Kläger von sich aus gemacht. Die Schulleiterin habe das zuständige Schulamt von dem Vorfall informiert. Sie habe bei ihren Hospitationen festgestellt, dass der Kläger sowohl methodische als auch didaktische Probleme habe. Deshalb habe sie ihm gesagt, dass es so an dieser Schule nicht gehe.

Den Justiziar habe der Kläger freiwillig aufgesucht. Der Justiziar könne sich nicht daran erinnern, den Kläger angerufen zu haben. Der Aufhebungsvertrag habe auch nicht fertig auf dem Tisch gelegen. Er sei im Laufe des Gesprächs ausgedruckt worden. Nach Einschätzung des Justiziars sei der Kläger völlig genervt von der Arbeit in der Schule und unzufrieden gewesen. Der Kläger selbst habe so schnell wie möglich die Arbeitssituation beenden wollen. Der Justiziar habe am Rechner direkt während des Gesprächs den Aufhebungsvertrag erstellt. Der Kläger habe sich nach dem Gespräch direkt für die unbürokratische Vorgehensweise des Justiziars bedankt. Mit einer Kündigung in der Probezeit habe der Justiziar nie gedroht. Über diese Möglichkeit sei überhaupt nicht gesprochen worden.

Das Landesarbeitsgericht hat keinen Beweis erhoben, d. h. keine Zeugen vernommen. Vielmehr hat es aufgrund des zwischen den Parteien unstreitigen Sachverhalts entschieden. Das Land Mecklenburg-Vorpommern habe bei dem Kläger eine psychische Drucksituation geschaffen und auch ausgenutzt, um den Aufhebungsvertrag mit ihm abschließen zu können. Es hatte zunächst den Arbeitsvertrag mit ihm abgeschlossen, der eine Probezeit vorsah. Eine Probezeit ist, nachdem das Arbeitsverhältnis bereits länger als 6 Monate angedauert hat, weder nach dem TV-L (§ 2 Abs. 4) noch nach dem Gesetz (§ 622 Abs. 3 BGB) zulässig. Der rechtsunkundigen Kläger habe aber davon ausgehen müssen, sich noch in der Probezeit zu befinden und deshalb ohne weitere Begründung kündbar zu sein. Er habe auch die von dem Schulamt vorgelegten Arbeitsvertragsunterlagen für wirksam halten dürfen. Es war dem Land bekannt, dass der Kläger über keine einschlägige pädagogische Ausbildung verfügte. Was die Schulleiterin nach der Hospitationsstunde konkret gesagt habe, könne dahingestellt bleiben. Schon eine Äußerung wie „so geht es bei uns an der Schule nicht“ baute bei dem Kläger, der im Förderunterricht unerfahren war, massiven Druck auf, so das Landesarbeitsgericht. Er habe daher massiv an seinen Fähigkeiten zweifeln müssen. Der Justiziar habe selbst gesagt, dass der Kläger völlig verzweifelt um mit den Nerven am Ende gewesen sei. Er habe durch Telefonat mit der Schulleiterin gewusst, dass der Kläger seine Unterlagen und seinen Schlüssel abgegeben habe und die Schule nach dem Abbruch des Unterrichts verlassen habe. Trotzdem habe er nicht nach den Ursachen der Verzweiflung des Klägers geforscht und Hilfestellungen oder andere Einsatzmöglichkeiten mit dem Kläger erörtert. Es sei für ihn erkennbar gewesen, dass der Kläger nicht zu einer überlegten Entscheidung in der Lage gewesen sei und seine Interessen frei wahrzunehmen.

Rechtlich stützte das Landesarbeitsgericht seine Begründung ganz wesentlich auf § 241 Abs. 2 BGB. Danach ist jede Vertragspartei verpflichtet, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen. Dagegen, so das Landesarbeitsgericht, verstößt ein Arbeitgeber, wenn er eine unfaire Verhandlungssituation ausnutzt oder herbeiführt und dies zu einer unfairen Behandlung des Vertragspartners führt. Der Arbeitgeber sei zwar nicht verpflichtet, eine besonderes angenehme Verhandlungssituation zu schaffen oder immer eine Bedenkzeit oder ein Rücktritts- oder Widerrufsrecht einzuräumen. Er müsse auch nicht vor der Einladung eines Gesprächs ankündigen, dass er beabsichtige, einen Aufhebungsvertrag abzuschließen. Wenn aber eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt werde, die zu einer erheblichen Erschwernis einer freien und überlegten Entscheidung führe, führe dies zu einer unfairen Verhandlungssituation.
Dann, so das Landesarbeitsgericht, sei der Arbeitnehmer so zu stellen, als habe er den Aufhebungsvertrag nicht abgeschlossen (§ 249 Abs. 1 BGB).

Bewertung / Tipps:
Das Landesarbeitsgericht setzt mit seiner Entscheidung eine Rechtsprechung fort, die vom Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 07.02.2019 (Aktenzeichen 6 AZR 75/18) eingeleitet wurde.
Die Möglichkeit des Arbeitnehmers, aus einem auf unfaire Weise zustande gekommen Aufhebungsvertrag herauszukommen, erweitern sich durch diese Rechtsprechung. Bisher galt eine strengere Rechtsprechung, die im Ergebnis dazu führte, dass ein Aufhebungsvertrag nur beseitigt werden konnte, wenn er durch arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung (§ 123 BGB) zustande gekommen war. Eine unfaire Verhandlungssituation könnte im Einzelfall leichter beweisbar sein als eine Täuschung oder Drohung.
Indizien für die Herbeiführung einer unfairen Verhandlungssituation sind:

  • Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer während einer Arbeitsunfähigkeit ohne Vorankündigung zu Hause aufgesucht.
  • Der Arbeitgeber hat den Arbeitnehmer, der nicht krankgeschrieben ist, unerwartet zu Hause aufgesucht.
  • Der Arbeitnehmer wird während der Arbeitszeit unangekündigt zu einem Personalgespräch zitiert, in dem dann ein Aufhebungsvertrag vorgelegt wird. 

Insgesamt ist aber auch eine Ausnutzung oder Herbeiführung einer unfairen Verhandlungssituation im Einzelfall sicher immer noch schwer nachzuweisen. Im vorliegenden Fall ist es letztlich nur gelungen, weil der Justiziar zugegeben hat, dass der Kläger nach seinem Eindruck „völlig verzweifelt“ und „mit den Nerven am Ende“ war. 

Daher rate ich immer:

  • Bleiben Sie ruhig.
  • Lassen Sie sich nicht überrumpeln.
  • Kommt es zu spontanen Einladungen zu einem Personalgespräch, fragen Sie nach dem Thema des Gesprächs und wer daran teilnehmen soll. Ziehen Sie sofort ein Betriebsratsmitglied Ihres Vertrauens hinzu.
  • Nehmen Sie zu Vorwürfen, die erhoben werden, nicht spontan Stellung. Überlegen Sie in Ruhe nach anwaltlicher Beratung, ob überhaupt eine Stellungnahme angebracht ist und wie diese aussehen soll.
  • Unterschreiben Sie niemals in einer solchen Erregungssituation.
  • Unterschreiben Sie nichts, das Sie nicht von vorne bis hinten genau verstehen.
  • Lassen Sie sich immer vor Abschluss eines Aufhebungsvertrages rechtlich beraten.

Hier finden Sie weitere wertvolle Informationen zum Thema "Aufhebungsvertrag"
(eingestellt am 15.11.2020)