Tipps und Urteile 2019

Ein mündlich telefonisch und nicht mit einem Formular oder einem Schriftstück gestellter Antrag auf Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen bei der Agentur für Arbeit reicht aus, um den Kündigungsschutz für mit den schwerbehinderten Menschen Gleichgestellte zu begründen. (Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 23.10.2018, 11 Sa 225/18)
Der Kläger war behindert mit einem Grad der Behinderung von 30. Er rief per Telefon am 06.03.2017 bei der Agentur für Arbeit an und stellte einen Antrag auf Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen. Von der Agentur für Arbeit bekam er Formulare zugesandt. Diese sind am 13.03.2017 von dem Kläger ausgefüllt bei der Agentur für Arbeit eingegangen. Am 31.03.2017 ging ihm die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu. Fast zwei Wochen nach Zugang der Kündigung, am 13.04.2017, stellte die Agentur für Arbeit den Kläger mit den schwerbehinderten Menschen gleich.
Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage mit der Begründung, dass eine Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung nicht vorgelegen habe und damit die Kündigung unwirksam sei.

Das Bundesarbeitsgericht hat nämlich in einem Urteil vom 01.03.2007 (2 AZR 217/06) festgestellt, dass der Kündigungsschutz auch schon dann besteht, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung zwar ein Nachweis über eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung noch nicht vorliegt, aber ein Antrag auf den Nachweis des Sonderkündigungsschutzes spätestens 3 Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt ist. Darauf berief sich der Kläger.

Strittig war, ob der Telefonanruf vom 06.03.2017 ausreichte, um den gesetzlichen Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen bzw. den schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Menschen zu begründen. Ob telefonische Antragstellung ausreicht, hatte das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2007 nicht entscheiden müssen, weil in dem von ihm damals entschiedenen Fall die Antragstellung erst 3 Tage vor Zugang der Kündigung erfolgt war.
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat zur Beurteilung dieser Frage allgemeine sozialrechtliche Verfahrensgrundsätze herangezogen. Danach können Anträge grundsätzlich formfrei wirksam gestellt werden. „Antrag ist jedes Verhalten eines Bürgers, mit dem das Begehren einer sozialrechtlichen Leistung ausgedrückt wird“ (LAG Niedersachsen, juris Rn. 43 m. w. N.) Das Landesarbeitsgericht wies auf § 16 Abs. 3 SGB I hin, wonach die Leistungsträger verpflichtet sind, darauf hinzuwirken, dass klare und sachdienliche Anträge unverzüglich gestellt werden und unvollständige Angaben ergänzt werden. Bei dem Antrag auf Gleichstellung handele es sich zwar nicht um eine Sozialleistung. Aber auch für einen solchen Antrag sehe das Gesetz eine besondere Form für den Antrag nicht vor. Somit reichte nach Auffassung des LAG Niedersachsen der Telefonanruf vom 06.03.2017 aus, um den Sonderkündigungsschutz zu begründen.

Ergänzende Hinweise, Tipps:
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat die Revision gegen sein Urteil zugelassen. Revision wurde auch eingelegt. Das Verfahren wurde beim Bundesarbeitsgericht durch Vergleich erledigt. Somit gibt es zu dieser Frage immer noch keine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts.

Mit einem Grad der Behinderung unter 50 ist man behindert, ab einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert. Die Feststellung erfolgt durch das Integrationsamt / Versorgungsamt in Zehnerschritten von 20-100. Ab einem Grad der Behinderung von 30 kann eine Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen erfolgen (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Diese kann man bei der Agentur für Arbeit beantragen.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass eine Kündigung Ihres Arbeitsverhältnisses bevorstehen könnte und Sie wegen Ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen glauben, dass Sie behindert oder schwerbehindert im Sinne des Gesetzes sein könnten, könnte es sich zur Fristwahrung lohnen, zunächst einmal bei Versorgungsamt bzw. Arbeitsamt anzurufen und den Antrag mündlich zu stellen. Denken Sie daran, dafür zu sorgen, dass Ihr Anruf bei der Behörde dokumentiert wird. Auf jeden Fall sollten Sie sich Datum und Uhrzeit Ihres Anrufs sowie den Namen des Angerufenen bei der Behörde notieren.

Der Anruf bei der Behörde allein reicht selbstverständlich nicht aus. Wenn Ihnen dann Antragsformulare zugesandt werden, sind Sie verpflichtet, ordnungsgemäß mitzuwirken und die von der Behörde gestellten Fragen ohne schuldhaftes Zögern zu beantworten. Andernfalls können Sie den Sonderkündigungsschutz auch wieder verlieren.

Bei dieser Gelegenheit lohnt auch noch der Hinweis:
Vielen Bürgern ist es gar nicht bekannt, dass Anträge auf Sozialleistungen formfrei gestellt werden können. Als „Antrag“ wird umgangssprachlich das Formular bezeichnet, das die von der zuständigen Behörde gestellten Fragen enthält und in der Regel ausgefüllt und unterschrieben bei der Behörde einzureichen ist. Juristen bezeichnen als „Antrag“ das bei der Behörde in welcher Form auch immer vorgebrachte Begehren von Sozialleistungen.
(eingestellt am 01.05.2019)