Tipps und Urteile 2019

Durch eine Compliance-Betriebsvereinbarung kann die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB, innerhalb derer eine fristlose Kündigung erklärt werden kann, nicht verlängert werden (Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 16.10.2018, Aktenzeichen 5 TaBV 7/18)

Es ging hier um ein sogenanntes Zustimmungsersetzungsverfahren. Das Betriebsratsamt ist besonders geschützt: Betriebsratsmitglieder sind nur außerordentlich kündbar und nur mit Zustimmung des Betriebsrats.

Der Vorsitzende eines Betriebsrats hatte einer Kollegin, der er zuvor schon einige sexualisierte Witze gesandt hatte, am 22.11.2016 WhatsApp-Videos und Bilder mit pornographischem Inhalt übersandt. Die Kollegin fühlte sich dadurch schwerstens belästigt. Sie kontaktierte entsprechend den Regelungen einer in dem Unternehmen bestehenden Konzernbetriebsvereinbarung eine dort bestehende Mitarbeiterberatung. Auf deren Empfehlung hin schrieb sie über ihr Smartphone an den Betriebsratsvorsitzenden: „STOP! Ich fordere Dich auf, mir ab sofort keine Nachrichten dieser Art mehr zusenden. Ich möchte das nicht!“ Der Betriebsratsvorsitzende antwortete am nächsten Morgen gegen 6:00 Uhr „Sorry E, die solltest Du gar nicht alle bekommen.“

Als der Betriebsratsvorsitzende kurz vor 8:00 Uhr das Büro betrat, in dem er gemeinsam mit der Kollegin seinen Arbeitsplatz hatte, verließ diese nach einem kurzen Wortwechsel das Büro und ging in die Personalabteilung. Sie erzählte ihrem Vorgesetzten und der zur Kündigung berechtigten Prokuristin von den Videos. Gegen 9:00 Uhr kehrte die Kollegin zusammen mit der Prokuristin in das Büro zurück, um persönliche Sachen der Kollegin abzuholen. Die Prokuristin sichtete gemeinsam mit der Kollegin das Smartphone der Kollegin und sie kopierten die WhatsApp-Nachrichten und übermittelten den Chat-Verlauf an eine Beraterin von der Mitarbeiterberatung sowie an die Personalleiterin des Betriebs. Danach wurde der Sachverhalt vertraulich behandelt.

Der Betriebsratsvorsitzende verließ die WhatsApp-Gruppe mit Worten des Bedauerns darüber, dass er einen Fehler gemacht habe, der ihm sehr leid tue.

Die Kollegin war ab dem 24.11.2016 ununterbrochen krankgeschrieben. Aus ihrer Arbeitsunfähigkeit heraus meldete sie sich bei der Arbeitgeberin mit einer E-Mail vom 15.12.2016, mit der sie eine 3-seitige nähere Schilderung des Falls abgab. Gegenstand dieser Schilderung waren unter anderem der Vorfall vom 21.11.2016 und auch die Videos.

Die Arbeitgeberin hörte den Betriebsratsvorsitzenden am 16.12.2016 , also 3 Wochen und 2 Tage nach Information der Prokuristin durch die betroffene Arbeitnehmerin, im Beisein des Konzernbetriebsratsvorsitzenden zu den Vorwürfen an. Er wurde von der Arbeit dauerhaft freigestellt. Die Arbeitgeberin beantragte mit Schreiben vom 19.12.2016 bei dem Betriebsrat die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 103 Betriebsverfassungsgesetz. Diesen Antrag erneuerte die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 21.12.2016, nachdem die betroffene Arbeitnehmerin ihre Vorwürfe per E-Mail von 20.12.2016 ergänzt hatte.

Das Betriebsratsgremium verweigerte die Zustimmung zur Kündigung des Vorsitzenden. Deshalb leitete die Arbeitgeberin ein Zustimmungsersetzungsverfahren vor dem Arbeitsgericht Stralsund ein. Das Arbeitsgericht Stralsund ersetzte die Zustimmung.

Der Betriebsrat hatte geltend gemacht, dass die Zweiwochenfrist gemäß § 626 Abs. 2 BGB abgelaufen sei und deshalb die beabsichtigte außerordentliche Kündigung unwirksam sein würde.

Die Arbeitgeberin berief sich auf die Konzernbetriebsvereinbarung zur Compliance. Danach sind diverse in der Betriebsvereinbarung genannte Personen, so auch der oder die Vorgesetzte und die Personalabteilung, zur Verschwiegenheit über ihnen gegenüber offenbarte Sachverhalte verpflichtet, wenn der Betroffene sie nicht von der Verschwiegenheitspflicht entbindet. Die Arbeitnehmerin habe die Prokuristin und die Mitarbeiterinnen aus der Personalabteilung in ihrer Eigenschaft als Vertrauensperson im Sinne der Konzernbetriebsvereinbarung kontaktiert, nicht als Kündigungsberechtigte. Deshalb, so die Arbeitgeberin, habe die Frist des § 626 Abs. 2 BGB erst mit der Vernehmung und Anhörung des Betriebsratsvorsitzenden am 16.12.2016 begonnen.

Das Landesarbeitsgericht Rostock hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts aufgehoben. Der Lauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei durch die Konzernbetriebsvereinbarung nicht gehemmt worden. Kernaussage der gerichtlichen Entscheidung ist, dass die zwingende gesetzliche Regelung des § 626 Abs. 2 BGB nicht durch eine Absprache zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat geändert werden kann. Daran, so das Landesarbeitsgericht, ändere es auch nichts, dass die Betriebsvereinbarung die in der Betriebsvereinbarung genannten Stellen zur Verschwiegenheit verpflichtet.

Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB beginne mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den Tatsachen Kenntnis erlangt, die die Kündigung begründen können. § 626 Abs. 2 BGB, so das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, ist zwingendes Recht, das durch eine Betriebsvereinbarung nicht abgeändert werden kann. Die Arbeitgeberin in Form der Person der Prokuristin kannte bereits am 23.11.2016 den vollständigen Sachverhalt.

Die Arbeitgeberin hatte sich auch darauf berufen, dass sie das grundrechtlich geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiterin habe waren müssen und deshalb erst etwas habe unternehmen können, als die Arbeitnehmerin auf die Vertraulichkeit verzichtet habe. Das Landesarbeitsgericht sah hier einen Eingriff nur im „Randbereich des Grundrechts und nicht in den Kernbereich“. Denn die Übersendung der Dateien, so das Landesarbeitsgericht, steht nicht im Zusammenhang mit ihrem Privat- und Sexualleben. Sie habe sich durch die Dateien zwar unangenehm berührt oder sexuell belästigt gefühlt, aber die Offenlegung dieses Sachverhalts habe keine Preisgabe ihrer persönlichen Gedanken, Wertvorstellungen oder ihres Privatlebens, etwa in Form von sexuellen Vorlieben oder ähnlichem beinhaltet.

Bewertung und Tipp: Eine juristisch sehr überzeugende Entscheidung. Der Schutz vor sexueller Belästigung kann nicht beinhalten, dass die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zur Disposition des /der Belästigten gestellt wird. Dies ist durch die hier bestehende Betriebsvereinbarung geschehen, jedenfalls, wenn man sie so interpretiert, wie die Arbeitgeberin es getan hat. Dann läge es an dem / der Belästigten, durch Freigabe der Informationen mit einer Schweigepflichtentbindung noch lange Zeit nach der eigentlichen Belästigungshandlung darüber zu entscheiden, ob eine Kündigung ausgesprochen wird. Das Gesetz will aber auch dem von einer ausserordentlichen Kündigung bedrohten Arbeitnehmer in angemessener Zeit Klarheit darüber verschaffen, ob ein Verhalten zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führt oder nicht.

Die Verbreitung von sexualisierten Witzen und Videos über WhatsApp nimmt immer mehr zu. Es scheint dafür ein Bedürfnis unter den Menschen zu geben. Wer solche Dateien versendet, sollte sich aber 100-prozentig darüber sicher sein, dass der Empfänger das ebenfalls lustig findet. Denen, die dadurch belästigt werden, empfehle ich, dies dem /der Belästiger / -in so schnell wie möglich deutlich zu machen. Schweigen wird, wie die Erfahrung zeigt, von Belästigern leicht als Einverständnis falsch gedeutet.

(Eingestellt am 15.01.2019)